Sonne (2022)

Identitätssuche auf der Überholspur

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Yesmin (Melina Benli), Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) sind drei Schulfreundinnen. Alle sind in Wien aufgewachsen, ihre Eltern sind aber von woanders nach Österreich eingewandert. Jede von ihnen kennt die Zerrissenheit, zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen. Yesmins Eltern sind Kurden, ihre Mutter versteht keinen Spaß, wenn es um Religion geht, ihr Vater sieht es nicht ganz so eng. Diese Diskrepanz wächst in der Folge immer mehr zu einem Konflikt heran, befeuert von Yesmins Experimentierfreudigkeit und Identitätssuche auf der Überholspur.

Die drei jungen Frauen singen und tanzen zu Losing My Religion von R.E.M. Beides tun sie nicht überaus gut, doch ihr Video, das sie über YouTube teilen, wird trotzdem zum Hit im Internet. Der Grund dafür ist, dass sie darin Hijabs tragen. Eine solche Kombination zwischen züchtiger, respektzollender Kleidung und musikalischem Auftritt ist wahrlich eine Sensation – und Provokation. Die Reaktionen sind unterschiedlich, unerwartet kommt die Flut an Buchungsanfragen für das Trio für muslimische Hochzeiten und Feiern.

Je normaler und akzeptierter die Erscheinung der drei Frauen im Hijab in ihrem Umfeld wird, desto mehr hinterfragt es Yesmin selbst, zu deren Alltag es bisher gehörte. Yesmin sieht, wie die Symbolik des Hijabs immer mehr verwässert. Ihre Freundinnen legen ihn an, wie sie es bei irgendeinem anderen modischen Accessoire tun würden. Und vermutlich wird er auch schon bald wieder etwas anderem weichen, vielleicht der Sonnenbrille einer besonders trendigen Marke. Die Generation Social Media hat eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, Aufstieg und Fall von Helden und Vorreitern sind meist eng miteinander verbunden.

Sonne von Kurdwin Ayub beschäftigt sich mit der Frage der kulturellen Aneignung. Verhält es sich doch mit dem Hijab ähnlich wie mit der Rastafrisur. Wann ist es erlaubt, dass Angehörige eines bestimmten Kulturkreises Eigenheiten oder Bräuche eines anderen übernehmen? Nur, wenn die beiden Kulturen auf dem gleichen Toleranzniveau sind? Abgesehen davon, dass sich die Frage stellt, ob das überhaupt messbar ist, würde das überspitzt bedeuten, dass ich als Mitteleuropäerin niederländische Holzschuhe tragen dürfte, aber als Areligiöse oder Nicht-Muslima keinen Hijab? Das Diskussionsfeld ist hier schier unendlich weit.

Noch wichtiger ist der Regisseurin, die selbst zwischen zwei oder vielmehr drei, wenn man die Internetwelt hinzurechnet, Kulturen aufgewachsen ist, die Identitätssuche, auf die sich ihre Protagonistin begibt. Diese weiß zu Beginn des Abenteuers selbst gar nicht, dass sie auf der Suche ist. Sie glaubt, auch von jugendlicher Unbelehrbarkeit geprägt, bereits ein gefestigter Mensch zu sein. Dann verändern sich aber angenommene Sicherheiten, die wider Erwarten am Schluss zu einer größeren Freiheit führen.

Ayub gibt sowohl diesen Prozess des Erwachsenwerden als auch das Balancieren zwischen den unterschiedlichen Erwartungen der Außenwelt auf die Jugendlichen auf Augenhöhe wieder. Sie nutzt dabei die Mittel der Generation, die sie porträtiert. An manchen Stellen wirkt das Drehbuch gar sehr gerafft, doch genau genommen passt das auch zur Schnelllebigkeit der Welt der sozialen Medien. Bilder vom Mobiltelefon spielen eine wichtige Rolle in der Erzählung. Den Protagonisten selbst hat die Regisseurin Telefone gegeben, mit denen sie ihre eigene Perspektive auf ihr Umfeld einfangen sollten. Die Grenze zwischen den experimentellen Videos, die Ayub ebenfalls macht, und der YouTube-Ästhetik, die in Sonne eingeflossen ist, verschwimmt.

Schon immer war das Lied Losing My Religion ein Ohrwurm, schon beim bloßen Lesen des Titels fängt man damit an, die ersten Töne im Kopf zu summen. Im Film wird es dermaßen oft angespielt, dass man es am Ende gründlich leid ist. Durch seine Einfachheit ist aber besonders eingängig und symbolträchtig für die Geschichte. Man könnte vielleicht kritisieren, dass Ayub ihre Motive nur wenig verschlüsselt präsentiert, kurz, etwas plakativ vorgeht. Andererseits passt das wiederum zur Generation und ihre Kommunikationskanäle, die im Mittelpunkt der Handlung stehen, die genauso wenig mit subtilen Argumenten glänzt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/sonne-2022