Wir könnten genauso gut tot sein (2021)

Mit Polohemd und Golfschläger für die kleine Ordnung

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Dass sich in den Filmen der diesjährigen Berlinale ein wiederkehrendes Thema abzeichnet, ist eigentlich kein Wunder: Welche angemessenen filmischen Ausdrucksweisen gibt es dafür, völlig von einer für alltäglich gehaltenen Welt abgeschirmt zu sein und gänzlich mit den eigenen Ängsten und Leidenschaften allein gelassen zu werden? Natalia Sinelnikovas Spielfilmdebüt "Wir könnten genauso gut tot sein" inszeniert den abgeschlossenen Raum einer Gemeinschaft, deren radikale Isolation gegen ein gefährliches Außen selbst zum großen Schrecken wird.

Im Haus des Heiligen Phoebus ist die Welt außergewöhnlich in Ordnung. Wie ein magischer Turm erhebt es sich aus einem dichten Wald, durch den eine Familie, adrett gekleidet und bewaffnet mit Äxten, zum Vorsprechen kommt: Sie würden alles dafür tun, in eine kleine Wohnung in dem Gemeinschaftsheim mit Sporteinrichtungen, Golfplatz und dem Gefühl absoluter Sicherheit einziehen zu dürfen. Die Sicherheitsbeauftragte Anna (Ioana Iacob) wägt das verzweifelte Ersuchen ab. In der Sitzung des Verwaltungsgremiums spricht sie sich dann gegen die neue Familie aus. Irgendwie passen sie nicht in die Gemeinschaft. Sicherheit, Gewöhnlichkeit, Vertrauen gehen vor.

Wie in jeder utopischen – oder dystopischen – Vision eines perfekten Zusammenlebens, ohne Leid, ohne Angst und ohne Kontakt zum gefährlichen Außen, enthüllt auch die Gemeinschaft in Wir könnten genauso gut tot sein schnell die totalitäre Dynamik, die dieser Perfektion innewohnt: Der Hund vom Hausmeister Gerti Posner (Jörg Schüttauf) ist verschwunden. Annas Tochter Iris (Pola Geiger) traut sich deswegen mit aller Vehemenz nicht mehr aus dem Badezimmer, weil sie fest davon überzeugt ist, mit ihrem "bösen Blick" den Hund ins Verderben gewünscht zu haben. Herr Posner ist sich dagegen sicher, dass eine Gefahr in der Gemeinschaft lauert, die vielleicht von jenem Außen eingedrungen ist, dessen Bedrohung vage bleibt. Vielleicht war diese Gefahr aber auch immer schon mitten in der Gemeinschaft. Es ist jedenfalls unfraglich, dass nur die Inquisition durch eine spontan gegründete Bürgermiliz, bewaffnet mit Golfschläger und pastellfarbenem Polo-Look, Schlimmeres verhindern und die offenkundig unfähige Sicherheitsbeauftragte Anna ablösen kann.

In dem beeindruckenden Szenenbild einer erstickend gewöhnlichen Gemeinschaftswohnanlage richtet sich jede Energie nach innen, als würde sie von den holzvertäfelten Wänden, von den säuberlichen Teppichen und Fliesenböden abprallen, durch die gleichförmig mausfarbenen Hosenanzüge und Pullunder hindurchgehen, um schließlich zurückzuschießen in die Bedrängnis und ziellose Panik, aus der sie entsprungen ist. Die Folge ist eine noch weiter gesteigerte Panik, deren Blindheit umschlägt in Hass. Anna und ihre Tochter sind nicht gebürtige Phoebus-Bewohnerinnen. War es ein Fehler, sie aufzunehmen? Immerhin sprechen sie die Sprache der anderen nicht ganz akzentfrei, und einmal hat Iris einem anderen Kind jiddische Volkslieder beigebracht. Überhaupt: Warum verlässt sie nie die Wohnung, sie hat doch sonst so schön gesungen? Hält Anna etwa ihre eigene Tochter gefangen? Und was ist eigentlich mit dem Dichter Wolfram (Moritz Jahn), der nur im Keller wohnen darf und im Fahrstuhl des Hauses seine Gedichte verkauft? Vielleicht hat er diesen ihm zugewiesenen Platz ja verlassen und die Engelsstatue von Familie Drescher (Susanne Wuest, Knut Berger) gestohlen?

Die Spiralen der Verdächtigungen, Gerüchte, Missgünste und Gehässigkeiten ziehen immer selbstständiger ihre Kreise und verdichten sich zum Horror von Nachbarschaft. So unausgesprochen im Film die Gefahren bleiben, die im unbestimmten Außen warten mögen, so eindeutig ist der Schrecken, der gerade in jener Isolation entsteht, die eigentlich vor diesem Außen schützen soll. Eine gemeinsame Grundlage für den Austausch im Haus wird zunehmend verunmöglicht von der Panik, die ihre eigenen Wirklichkeiten erzeugt. Herr Posner findet seinen toten Hund, er hat eine Schusswunde. Anna versucht ohne Erfolg, allen im Haus klarzumachen, dass es sich dabei nicht um eine Schusswunde handelt, ja, dass der Kadaver nicht einmal der eines Hundes ist. Aber was soll das schon sagen? Das Gefühl der Bedrohung, erklärt Vorsitzende Ursel (Şiir Eloğlu), sei mindestens so real wie die Bedrohung selbst.

Die bedrückende Welt, die Wir könnten genauso gut tot sein in den engen Räumen des Heims erzeugt, wird durchzogen von dem körperlich spürbaren Misstrauen, das sich zwischen den durchweg herausragend gespielten Figuren aufspannt. Es entsteht ein reines Innen, das alle Gefühle gegen sich selbst richtet, die herauszubrechen versuchen, aber kein Außen mehr finden, auf das sie sich beziehen könnten. Damit ist Wir könnten genauso gut tot sein einerseits ein Film, der sich deutlich auf eine ganze Breite an Gegenwärtigem bezieht – auf der anderen Seite aber hängt Sinelnikovas Debüt sich nicht zu sehr an diese Aktualität, sondern stellt die strenge Inszenierung von Figuren in den Mittelpunkt, deren Wirklichkeit keine aufrichtigen oder rechtschaffenen Menschen mehr zulässt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wir-koennten-genauso-gut-tot-sein-2021