Saf (2018)

Bauwut und soziale Not in Istanbul

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Es herrscht Unruhe im Istanbuler Viertel Fikirtepe. Häuser werden abgerissen, Bagger graben sich in das Erdreich, neue Wohntürme ragen bedrohlich auf und bedeuten denjenigen, die aus ihren geduckten Häuschen noch nicht weggezogen sind, dass sie darin keine Zukunft haben. Es herrscht Aufruhr unter den Bewohnern. Hausbesitzer, die sich dem Druck, ihr Eigentum zu verkaufen, widersetzen wollen, halten ratlos Versammlungen ab. Syrische Geflüchtete, die in den leerstehenden Häuschen einen Unterschlupf auf Zeit gefunden haben, werden angefeindet, weil sie auf den Baustellen für weniger Lohn als die Einheimischen arbeiten. Jeder ist sich in dieser Krisensituation, in der Recht, Ordnung und Moral keinen verlässlichen Halt mehr bieten, selbst der Nächste. Das müssen auch Kamil (Erol Afsin) und seine Frau Remziye (Saadet Aksoy) erfahren, die in höchster Not unterschiedliche Wege einschlagen.

Der Spielfilm des Istanbuler Regisseurs und Drehbuchautors Ali Vatansever, der mit türkischer, deutscher und rumänischer Beteiligung produziert wurde, hatte seine Uraufführung bereits 2018 auf dem Filmfestival von Toronto. Er betrachtet die brutale Gentrifizierung, die in einzelnen Vierteln der altehrwürdigen türkischen Metropole keinen Stein mehr auf dem anderen lässt, als ein Symbol für den allgemeinen gesellschaftlichen Wandel, der angestammte Werte infrage und den individuellen moralischen Kompass der Menschen auf die Probe stellt. Vatansevers Drama hat dabei viel mit Ghosts von Azra Deniz Okyay aus dem Jahr 2020 gemeinsam, der den Perspektiven vier verschiedener Charaktere folgte. Vatansever erzählt in der ersten Hälfte der Handlung, wie Kamil in die Krise gerät und widmet sich dann Remziye, die nach seinem Verschwinden versucht, das Chaos zu lichten und die Füße wieder auf den Boden zu bekommen. Wie bei Okyay wird auch hier dem weiblichem Geschlecht wegen seiner soft skills eine größere Bereitschaft zur moralischen Erneuerung, zu zwischenmenschlicher Solidarität und pragmatischer, ausgleichender Vernunft zugesprochen.

Das türkische Wort Saf hat viele Bedeutungen, von naiv bis unverfälscht, aber der Regisseur will es nach eigenen Angaben hier im Sinne von „eine Haltung einnehmen“ verstanden wissen. Kamil hat eine klare Haltung: Weder will er sein Häuschen verkaufen, noch den Nachbarn in den Rücken fallen, indem er auf der Baustelle desjenigen Unternehmers um Arbeit sucht, der das Viertel verwandelt. Aber Kamil braucht Geld und bewirbt sich dennoch gerade dort um einen Job als Baggerfahrer. Weil der syrische Baggerfahrer Ammar (Kida Khodr Ramadan) einen verletzten Arm hat, bekommt Kamil seinen Job. Einen Baggerführerschein hat er zwar nicht, verspricht aber, ihn umgehend zu machen. Nun hat Kamil auf einen Schlag mehrere Feinde: Ammar attackiert ihn wütend, weil er seinen Job zurückhaben will, und die türkischen Arbeiter sind wütend auf den neuen Kollegen, der sich zum Niedriglohn des Syrers anstellen lässt und so das Lohndumping befördert.

Kamil, dessen Bewegungen die Kamera durch lange, ungeschnittene Szenen folgt, gerät psychisch immer mehr unter Druck. Er ist kein Ausländerfeind wie sein Freund Fatih (Onur Buldu), der ihm anbietet, Ammar mit ein paar Kumpel zu verprügeln, sich aber ziert, ihm Geld für den Baggerschein zu leihen. Und Kamil spricht sich gegen die Gedankenspiele von Remziye und Fatihs Frau Nevin (Ümmü Putgül) aus, ob man nicht die illegal beschäftigte rumänische Kinderfrau in dem Haushalt, in dem Remziye putzt, auffliegen lassen könnte. Dann bekäme womöglich Remziye den Job als Babysitterin. Kamil hält dagegen, dass ja auch sie schwarz arbeite. Kamil sucht zunächst zuhause ein Ventil für seinen wachsenden psychischen Druck. Er reagiert kleinlich auf Remziyes Unbekümmertheit, mit der sie sich etwas mehr Gemüse aus dem Garten der Nachbarschaft nimmt und ein geschenktes Besteck auf den Tisch legt. Trotz der Nähe, die die Kamera zu ihm herstellt, bleibt Kamils Gefühlswelt jedoch weitgehend unergründlich. Die Inszenierung wirkt naturalistisch und lässt dem Mann seine Geheimnisse, wodurch aber auch die fatale Entscheidung, die er schließlich trifft, ziemlich rätselhaft erscheint.

Remziye bekommt dann schon mehr Gelegenheit, ihre Gefühle zu zeigen. Sie muss nicht nur aufklären, was mit ihrem Mann geschah, sondern auch feststellen, dass er ihr viel verschwiegen hatte. Im Laufe ihrer Krise findet Remziye ihren moralischen Kompass, gerade indem sie erkennt, dass es nicht nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse gibt. Sie findet auch eine Antwort auf den Ausländerhass, der zur Hackordnung wie selbstverständlich dazugehört, gerade auch in dieser gesellschaftlichen Schicht, die aus dem Viertel gedrängt wird. Vatansevers über weite Strecken spannender Film zeigt sehr offen und ungeschönt, aus welchen Quellen sich die weit verbreitete Fremdenfeindlichkeit nährt. Das ist, abgesehen von der Kontemplation über äußere Umbrüche, die innere nach sich ziehen, vielleicht sein größtes Verdienst.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/saf-2018