Doctor Strange in the Multiverse of Madness (2022)

In anderen Welten

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Die erzählerischen Möglichkeiten des Multiversums, der Gesamtheit vieler paralleler Welten, blitzte schon im Oscar-gekrönten Animationswerk „Spider-Man: A New Universe“ auf, das 2018 einen jugendlichen Spider-Man mit afro- und lateinamerikanischen Wurzeln auf zahlreiche unterschiedliche Spinnenmänner aus anderen Dimensionen treffen ließ. Unterhaltsam aufbereitet wurde das Konzept auch im Realfilmspektakel „Spider-Man: No Way Home“, dem 27. Kapitel des Marvel Cinematic Universe (MCU), jener 2008 gestarteten Leinwandreihe auf Basis der berühmten Marvel-Comics. Beitrag Nummer 28 des Kinogroßprojektes, der unter der Regie von Horrorspezialist Sam Raimi entstand, wendet sich nun erneut dem Multiversum zu und erweist sich als eine der visuell kreativsten Arbeiten der Marvel-Saga.

Der frühere Neurochirurg Stephen Strange (Benedict Cumberbatch), der schon in Spider-Man: No Way Home schwer damit beschäftigt war, Risse zwischen den verschiedenen Welten zu kitten, bekommt es in seinem zweiten Soloabenteuer mit neuen Problemen im Kontext des Multiversums zu tun. Als er zusammen mit seinem Vertrauten Wong (Benedict Wong), dem obersten Meister der mystischen Künste, die Teenagerin America Chavez (Xochitl Gomez) vor einem glubschäugigen Monster rettet, staunt er nicht schlecht über die außergewöhnliche Gabe der jungen Frau: Wenn sie Angst empfindet, kann sie durch ein Portal von einer Dimension zur nächsten springen und hat daher auch schon zahlreiche andere Doctor-Strange-Versionen kennengelernt. Der Haken an der Sache: Wie ihre Fähigkeit zu kontrollieren ist, weiß America nicht.

Um Licht ins Dunkel zu bringen, auch im Hinblick auf die Frage, warum die Jugendliche gejagt wird, wendet sich Strange an Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen), ein früheres Mitglied der Avengers-Truppe, das in der ambitionierten Marvel-Serie WandaVision den Verlust ihres Geliebten Vision durch die Flucht in eine Scheinwelt zu revidieren versuchte und sich dort auch zwei Kinder herbeiimaginierte. Ihre Trauer hat die mit Hexenkräften ausgestattete Maximoff in den Bann dunkler Mächte getrieben und wird nun zu einer Gefahr für das Multiversum. Denn niemand anderes als Wanda, die sich inzwischen in Scarlet Witch verwandelt hat, ist auf Americas besondere Gabe scharf, um endlich, in irgendeinem der vielen Universen, ihre ersehnte Mutterrolle ausfüllen zu können.

Verfügte Doctor Strange, der erste alleinige Strange-Auftritt aus dem Jahr 2016, noch über einen austauschbaren, eindimensionalen Gegenspieler, gehört die Antagonistin im Nachfolger zu den großen Pluspunkten. Über Wanda Maximoff, die einst an der Seite der Avengers für das Gute kämpfte, sinniert der Film nicht nur über die Verführbarkeit durch das Böse. Ihre traurige Vorgeschichte verleiht ihr auch eine emotionale Tiefe, die das rücksichtslose Handeln zumindest halbwegs nachvollziehbar macht. Zweifellos ist sie keine übliche, von Größenwahn angespornte Ich-will-alles-unterwerfen-Schurkin, sondern eine versehrte Figur, deren Schmerz außer Kontrolle gerät. Diese Ambivalenz, die in der Riege der MCU-Widersacher*innen Seltenheitswert hat, kommt auch im zwischen wilder Entschlossenheit und ehrlicher Verletzlichkeit schwankenden Spiel Elizabeth Olsens überzeugend rüber. Nicht ganz zufriedenstellend ist allerdings die Art und Weise, wie Wandas Charakterbogen abgeschlossen wird. Im Finale haben es Regisseur Raimi und Drehbuchautor Michael Waldron (Loki) etwas zu eilig und verschenken dadurch noch mehr Ausdruckskraft.

Strange, dessen Selbstgefälligkeit und Eigensinn immer mal wieder Thema sind, erhält ebenfalls Entfaltungsraum. Erstens, weil er dank der Reise durch die Parallelwelten plötzlich mit seinen Gefühlen für Ex-Kollegin Christine Palmer (Rachel McAdams) konfrontiert wird. Und zweitens, weil er es außerdem mit einer anderen Version seiner selbst aufnehmen muss. Keine Frage, das Multiversum bietet ausreichend Gelegenheit, den Figuren weitere Facetten anzuheften.

Ärgerlich ist hingegen, wie wenig sich der Film für Neuzugang America interessiert. Die Jagd auf sie ist der Ausgangspunkt des Plots. Unter dem Strich wirkt die Teenagerin aber bloß wie ein erzählerisches Vehikel ohne richtiges Profil. Eine kurze Rückblende, in der ihre beiden Mütter gezeigt werden, deutet ihre tragische Backstory an. Dass Chavez in den Comics lesbisch ist, scheint der Film jedoch fast kaschieren zu wollen. Disney, so sieht es zumindest aus, ist noch nicht bereit für eine offen homosexuelle Superheldin. Wenig verwunderlich läuft die eher dürftige Zeichnung Americas im Finale auf einen Entwicklungsschritt hinaus, der einem recht behauptet vorkommt.

Eine enorme kreative Energie legt Doctor Strange in the Multiverse of Madness in der Inszenierung und der optischen Gestaltung an den Tag. Raimi und sein Team nutzen den Ritt durch das Multiversum für allerlei akrobatische Einlagen, Perspektivspiele, zackige Actionchoreografien und, was besonders ins Auge sticht, Horrorfilmanleihen. Ob Gedankenkontrolle, Besessenheit, Zombiebezüge oder zarte Splatter-Momente – bekannte Genremotive finden sich zuhauf. Der Regisseur, der seine Karriere mit dem kultisch verehrten Schlachtfest Tanz der Teufel begann, frönt seiner Leidenschaft fürs Düstere und Makabre und etabliert eine in der Marvel-Reihe eher unübliche Stimmungslage, die seltener als sonst von lustigen Sprüchen aufgelockert wird. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Das Ganze ist schon aus Gründen der Altersfreigabe nicht so verstörend, dass es die Marvel-Maßstäbe pulverisiert. Horror ja, aber bitte schön im etablierten Rahmen, dürfte die Ansage gelautet haben. Schade eigentlich, dass der unglaubliche Erfolg der Superheldenfilme echte Experimente verhindert oder nur in Ausnahmefällen – siehe die auch formal ungewöhnliche Miniserie WandaVision – gestattet.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/doctor-strange-in-the-multiverse-of-madness-2022