My Night (2021)

Morgen ist heute

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

In Paris, dieser so verschlungenen und dicht bevölkerten Stadt, kann man sich gut verlieren – die Orientierung, aber auch das eigene Selbst. Vor allem dann, wenn man sich wie Marion (Lou Lampros) der eigenen Zukunft nicht mehr sicher ist und die Gegenwart eine Schockstarre gleicht. Die 18-jährige möchte einfach nur noch raus. Raus aus der Wohnung und aus ihrem Leben. Heute ist der Geburtstag der vor 5 Jahren verstorbenen Schwester, deren Tod schwer auf der Marion lastet. Nach einem Streit mit der Mutter lässt sie sich durch die Straße der französischen Hauptstadt treiben, trifft angebliche Freundinnen, folgt Zufallsbekanntschaften und tanzt auf einer wilden Party.

Egal wie sehr Marion versucht, sich in den Momenten zu fühlen, immer bleibt das Gefühl einer äußersten Fremdheit und Verletzlichkeit. Auf dem Weg allein durch die Nacht trifft sie schließlich auf Alex (Tom Mercier, bekannt aus dem Berlinale-Gewinner Synonymes), der sie vor zwei aufdringlichen Männern beschützt. Der Eskapismus wird schließlich zu einem philosophischen Spaziergang und einem Wandern durch den Zauber des Verliebens.

Das Spielfilmdebüt der Casterin Antoinette Boulat, die für Mia Hansen-Løve, Olivier Assayas und Wes Anderson gearbeitet hat, ist ein wunderbarer Film über Liebe, Jugend und das Flanieren. So wie sich Marion und Alex in der Stadt verlieren, verlieren sie sich auch ineinander. Sich zu verlieben, das heißt immer auch den anderen zu stürzen, in die Liebe zu fallen. Boulat übersetzt diese Metaphern in eine Kartografie des Urbanen; in My Night wird Paris zu einer Landschaft der Gefühle, die durch den aufmerksamen Blick der Kamera immer auch einen sinnbildlichen Charakter entfaltet. Die Orte, an denen hier jeweils innegehalten wird, ermöglichen immer auch andere eine Vielzahl anderer Abzweigungen, verführen zu Abkürzung, Annäherung oder Flucht.

Im vollsten filmgeschichtlichen Bewusstsein übernimmt Boulat erzählerische Elemente aus der Nouvelle Vague. Die Art, wie die Figuren sprechen, wie sie immer auch philosophische Pirouetten drehen, erinnert in der zeitlosen Künstlichkeit an die einflussreiche Generation französischer Filmemacher_Innen. Insbesondere wenn die Figur der Marion eingeführt wird, mit Jump Cuts und statischen Aufnahmen einer Unbeweglichkeit inmitten eines Treibens; da steht sie in der Mitte einer Straße und weiß weder vor noch zurück, während die Autos ihre unmöglichen Wege mit zielgerichtetem Rauschen durchschneiden. Ein Schritt nach vorne und es wäre vorbei.

Es ist aber weniger die Ästhetik Jean-Luc Godards als vielmehr Agnès Vardas Geist, der hier aufgegriffen wird. Man denkt unentwegt an Cléo – Mittwochs zwischen 5 und 7, der auch von der Bewegung, den Begegnungen und dem Spazieren einer Frau erzählt. Doch My Night ist nicht bloß eine Aktualisierung einer Tradition. Es ist ein Film, der zugleich ein kraftvolles Generationenporträt entwirft, eine durchaus komplexe Analyse eines jugendlichen Lebens-gefühls, das sich einer Vielzahl von Krisen stellen muss. Maries Gefühl der Zukunftslosigkeit ist keine Melancholie eines Teenagers. Es ist eine ernsthafte Angst vor dem, was kommen könnte.

In einer Szene hat Marie eine albtraumhafte Vision. Sie hört einen Schuss. Menschen laufen in Panik auf den Straßen. Erinnerungen an die Anschläge von Paris 2015 werden wach. Ein Auto rast auf Marie zu, sie läuft davon und stürzt. In der Platzwunde, die sie davonträgt, wird auch die seelische Verletzung einer Generation sichtbar, die ihrer Leichtigkeit beraubt wird. Wie soll eine solche Gegenwart keine Spuren hinterlassen?

Trotz dieser dunklen Momente ist My Night lebensbejahender Film, der in der Begegnung zwei Menschen eine Hoffnung findet. Nicht nur verliebt man sich in die schwelgerische Leichtigkeit dieses filmischen Spaziergangs. Man will sich auf der Stelle selbst in die Liebe stürzen. Wie sagt Alex an einer Stelle: Morgen ist heute. Ein wahrlich kämpferischer Satz.    

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/my-night-2021