Getting Away with Murder(s) (2021)

Schmerzvolle Wiederaufarbeitung einer unterlassen Sühne

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Es ist etwas mehr als 75 Jahre her, dass am 1. Oktober des Jahres 1946 der Nürnberger Prozess des Internationalen Militärgerichtshofs gegen die Hauptverantwortlichen für die Kriegsverbrechen während der Zeit der Nationalsozialismus endete. Zwar folgten bis 1949 noch zwölf weitere sogenannte Nürnberger Nachfolgeprozesse, doch der Hauptprozess gegen die 24 Hauptangeklagten, von denen nur 21 vor dem Gericht erschienen (einer hatte Selbstmord begangen, ein zweiter erkrankte und Martin Bormann wurde in Abwesenheit verurteilt), gilt bis heute als bahnbrechend und ist nach wie vor wegen vieler offener Fragen hinsichtlich seiner Durchführung und der geringen Anzahl an Angeklagten, die wohl der Größe des Gerichtssaales geschuldet waren, ein äußerst zwiespältiger Moment der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Am Ende wurden 19 der Angeklagten verurteilt und drei von ihnen freigesprochen.

Diesen Moment der Geschichte nimmt der britische Regisseur David Nicolas Wilkinson zum Ausgangspunkt für seinen Dokumentarfilm Getting Away With Murder(s), in dem er die juristische Aufarbeitung des Holocaust unter die Lupe nimmt und vor allem der Frage nachgeht, warum nur so wenige der an diesem beispiellosen Völkermord Beteiligten je juristisch belangt wurden. Von den 750.000 bis 1 Million Beteiligten am Holocaust wurden rund 99% niemals vor ein Gericht bestellt, so bringt es Mary Fulbrook, Professorin für Deutsche Geschichte am University College of London, an einer Stelle des Films auf den Punkt.

Wie konnte das geschehen? Wie konnte man (die Politik, die Gesellschaft, die Justiz - wir alle) es zulassen, dass so viele Verbrechen ungesühnt blieben und viele der Täter unbehelligt weiterleben konnten? Was ist mit den unzähligen Berichten, die ungehört vergingen oder lediglich in den Archiven weggeschlossen wurden? Dies ist die zentrale Fragestellung, die den Filmemacher antreibt - und das ausdrücklich auch vor dem Hintergrund, dass die Fehler und Unterlassungen der Vergangenheit nicht nur bis heute folgen haben, sondern dass diese durchaus dazu führen können, dass Ähnliches wieder geschieht.

Fast drei Stunden lang geht der Dokumentarfilm, an dessen Entstehen uns David Nicolas Wilkinson teilhaben lässt. Wie bereits bei seinem vorherigen Film Postcards from the 48 %, in dem sich der Filmemacher mit den Folgen des Brexit-Referendums auseinandersetzte, sehen wir ihm bei seinen Reisen zu, sind wir an seiner Seite, wenn er als präsenter Fragesteller seine Recherchen unternimmt. Unterwegs trifft er auf Menschen wie Benjamin Ferencz, den einzigen heute noch lebenden Vertreter der Anklage des Nürnbergers Prozesses, Jens Rommel, bis 2020 Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Philip Rubenstein, den ehemaligen Leiter der All Party Parliamentary War Crime Group und andere Expert*innen. Dabei liegt der Fokus der Recherchen nicht allein auf der Unwilligkeit Nachkriegsdeutschlands, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen und bekannte Nazis nicht nur nicht zu verfolgen, sondern sie auch ihre Karrieren fortführen zu lassen. Wilkinson widmet sich ebenso den Versäumnissen der Alliierten, die ebenfalls in der ideologisch aufgeladenen Atmosphäre seit den 1950er-Jahren nicht gerade viel Eifer in der Aufarbeitung an den Tag legten. Und so ist Getting Away With Murder(s) auch ein Film, der Karrieren berühmter Nazis nachzeichnet und Kontinuitäten offenlegt, vor deren Dreistigkeit und Selbstverständlichkeit man heute noch fassungslos steht und sich zugleich einmal mehr nicht wundert, warum rechtes und neurechtes Gedankengut in diesem Land so gut gedeihen kann. Der fruchtbare Boden, auf den dieses Denken fiel, war stets bestens bereitet und gehegt.

Es ist neben der Akribie, die den im Übrigen völlig frei und ohne Förderung finanzierten Getting Away with Murder(s) auszeichnet, vor allem die neue und so bisher kaum je beachtete Perspektive, die den Film auszeichnet und die ihn zu einem weiteren unverzichtbaren Puzzlestück macht, der Claude Lanzmans Shoah in kongenialer Weise ergänzt.

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/getting-away-with-murders-2021