Der Alpinist (2021)

Das kurze Leben eines Klettertalents

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Es muss ein wahrer Albtraum für die beiden Dokumentarfilmer Peter Mortimer (Durch die Wand - The Dawn Wall) und Nicholas Rosen gewesen sein. Da drehen sie gerade einen Film über den jungen Kletterer Marc-André Leclerc, als dieser, genervt von den Sitzungen vor der Kamera, plötzlich verschwindet. Eine ganze Weile später erhalten sie im Frühjahr 2016 die Nachricht, dass Leclerc die erste Solo-Begehung einer Route an der Emperor Face des kanadischen Mount Robson gelungen ist. Als ihn das Filmteam wieder trifft, erklärt Leclerc, er habe wirklich allein sein wollen bei seinem atemberaubenden Kletterabenteuer am Fels, auf Eis und Schnee.

Um Filmaufnahmen doch noch zu ermöglichen, wiederholt der gerade mal 23-jährige Profikletterer dann die spektakuläre Tour. Zwei Jahre folgen ihm Mortimer, der auch den Filmkommentar beisteuert, und sein Team für ihr Porträt. Niemand ahnt, dass es eine postume Würdigung wird: Im März 2018, als der Film geschnitten wird, sterben Leclerc und sein Kletterpartner Ryan Johnson unter einer Lawine beim Abstieg von einem auf neuer Route erreichten Gipfel der Mendenhall Towers in Alaska. Leclerc ist, wie seine Schilderungen vor der Kamera bezeugen, die Gefahr seiner Abenteuer stets bewusst gewesen. So sagt er einmal, die größte Gefahr bestehe darin, dass man nicht kontrollieren könne, was der Berg macht. Aber es sei, fügt er als Erklärung für seine sportliche Motivation hinzu, eine der coolsten Erfahrungen überhaupt, „sich winzig klein zu fühlen in einer so großen Welt“.

Als Mortimer auf den jungen Mann aufmerksam wird, haben dessen erste spektakuläre Erfolge noch überraschend wenig Beachtung in den sozialen Medien gefunden. Leclerc lebt seit seinem Schulabschluss mit 16 Jahren in Squamish, British Columbia, dem kanadischen Mekka der Kletterszene. Im Gegensatz zu anderen Sportlern seiner Generation baut er sich kein Internet-Image auf, besitzt zeitweise gar kein Handy. Als Wohnung dient ihm und seiner Freundin und häufigen Kletterpartnerin Brette Harrington ein Zelt im Wald. Bergsportler*innen, die ihn kennen, beschreiben ihn als positiven, unbekümmerten Menschen. Obwohl er zurückhaltend ist, ist er eine Weile gerne auf Parties gegangen und hat Drogen konsumiert. Er führt praktisch das Leben eines Aussteigers, dem die eigene Freiheit wichtiger ist als Ruhm und Geld. Seine Mutter erzählt, dass er als hyperaktives Kind die Schule als Qual empfand. Sie habe seine Leidenschaft für das Klettern unterstützt, denn für einen geregelten Job sei er nicht geschaffen gewesen.

Leclerc erzählt, dass ihn das Klettern ruhiger und gelassener gemacht habe. Alte und junge Bergsportler*innen rühmen seine elegante, fast tänzerische Art, sich auf senkrechtem Fels hinauf zu hangeln. Er beeindruckt unter anderem den Solokletterer Alex Honnold, Star des mit dem Oscar prämierten Dokumentarfilms Free Solo, die Eiskletterer Will Gadd und Raphael Slawinski, die erfahrenen Alpinisten Jim Elzinga und Barry Blanchard. Denn mal besteigt Leclerc Felswände ohne Seilsicherung, mal hangelt er sich mit seinen Eispickeln an gefrorenen Wasserfällen hoch oder beweist sich im Mixed Klettern, wo der Untergrund auf Schritt und Tritt von Stein zu Eis oder Schnee wechseln kann.

Die Filmaufnahmen seiner Kletterpartien sind natürlich spektakulär. Es stockt einem der Atem, wenn sich Leclerc beim Griffwechsel am Fels einen Pickel über die Schulter legt – nicht auszudenken, was geschähe, wenn er ihn verliert. Oder wenn er in der Steilwand des Torre Egger die Schuhe wechselt, weil der Untergrund mal Bergstiefel, mal Kletterschuhe erfordert. Da ist er gerade auf dem Weg zu einem neuen Rekordversuch, der winterlichen Besteigung der 2880 Meter hohen Granitspitze in Patagonien im Alleingang. Beim nächtlichen Biwakieren weckt ihn ein Schneesturm und er muss sich in Lebensgefahr abseilen. Im zweiten Anlauf gelingt die Gipfelbesteigung. Leclerc wirkt eher besonnen, als ein Mensch, der sich mutwillig Risiken aussetzt. Aber es ist ihm bewusst, dass jede Tour die letzte sein könnte.

Die filmische Montage überzeugt nicht immer: Mortimer und Rosen neigen dazu, die Aufnahmen beim Klettern mit Statements zu garnieren. Solche Schnitt- und Schauplatzwechsel kommen dem Wunsch, beim Zuschauen länger in das Naturerlebnis am Berg einzutauchen, wiederholt in die Quere. Die schiere Anzahl der Kommentierenden kaschiert nur mühsam, dass sich Leclerc selbst im Gespräch lediglich sporadisch öffnet und sich manchmal zu fragen scheint, was die Filmemacher noch von ihm wollen. Auf seine Weise aber wirkt er schon mit Anfang 20 als unverwechselbare Persönlichkeit, selbst unter den vielen Individualisten des Profi-Bergsports. Der Tod ereilt Marc-André Leclerc viel zu früh, aber nicht als unglücklichen Menschen, sondern bei der Verwirklichung seiner Träume.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-alpinist-2021