Zero Fucks Given (2021)

Waren ver/kaufen Waren

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

Cassandra (Adèle Exarchopoulos) arbeitet als Stewardess für eine Billigairline. Oder sollte man nicht eher sagen, sie ist eine Verkäuferin in den Lüften? Denn letztlich geht es weniger um eine Betreuung der Fluggäste als vielmehr darum, möglichst viele Duty-free Artikel zu verkaufen. Der Druck, eine bestimmte Zielmarke an Umsatz zu erzielen, ist groß.

Viel zieht die junge Frau nicht aus ihrer Tätigkeit. Im Grunde wird sie lediglich von ihrer Uniform zusammengehalten; eine Verkleidung, mit der sie sich selbst von der inneren Leere verbarrikadiert. Am liebsten wäre die junge Frau ohnehin ständig in der Luft, in dauernder Bewegung, ortlos und ungebunden.

In ihrer Wohnung, die sie sich mit Kolleginnen teilt, hält sie es nicht lange aus und betäubt sich mit unbedeutendem Tinder-Sex, Alkohol und drogengeschwängerten Partys. Dann verliert sie aus lächerlichen Gründen ihren Job. Gezwungen nach Hause zu ihrem Vater und ihrer Schwester zurückzukehren, muss sie sich dem kaum verarbeiteten Tod der Mutter stellen.

Es ist vor allem die erste Hälfte des Films, die fasziniert. Diese seltsame Welt der Billigairline und die touristischen Nichtorte werden in all ihrer überfüllten Leere und mit einem feinen Gespür für Details als seelische Brachflächen offengelegt. Die Wandelbarkeit der Hauptdarstellerin ist dabei das Ereignis von Zero Fucks Given. Wie sich Adèle Exarchopoulos ständig verwandelt, sich häutet und sozial verkleidet, ist große Kunst. Sobald sie das Stewardess-Kostüm ablegt, erkennt man sie nicht wieder, droht gar sie in ihrer Unscheinbarkeit zu verwechseln. Und doch bricht durch die selbstsichere Ausstrahlung, mit der sie die Streikanliegen der Gewerkschaft abwiegelt, eine suchende Verlorenheit. In der Menschenmasse im Club wandert ihr Blick unsicher, beinahe ängstlich herum; in der Menge, ohne ihre Uniform wirkt sie verloren.

In einer Szene bittet Cassandra ihr Tinderdate, sie nach dem Sex noch einige Momente im Arm zu halten. Sie begehrt nicht die Lust, sondern die Berührung, sehnt sich nach Nähe. Zunehmend kann ihre Ruhelosigkeit die peinigende Einsamkeit nicht mehr aufheben: Die oberflächliche Konsumhölle wird zum Spiegel der inneren Leere, in der bloß noch die Waren zirkulieren. Wer Cassandra wirklich ist, darüber ist sie sich selbst nicht im Klaren.

Zero Fucks Given ist in seinen guten Momenten ein einfühlsames und pointiertes Porträt einer Ruhelosen. Es erlaubt uns einen Blick in eine (Arbeits)Welt, die wir alle zu kennen glauben. Was allerdings die Freiheit des Reisens für die prekären Existenzen bedeutet, die uns mit ihrem freundlichen Lächeln im Flugzeug so herzlich empfangen, wird kaum, thematisiert. Das Regieduo Julie Lecoustre und Emmanuel Marre schafft es auch durch die dokumentarische Inszenierung ungeheuren existenziellen Druck aufzubauen, der sich bisweilen im bittersüßen Witz bricht. Je länger der Film dauert, desto mehr sehnt man sich nach einem Tonwechsel, nach einer filmischen Form, die sich gegen diese unwirtlichen Orte auflehnt.

Genau darin liegt die Schwäche dieses Films. Die Geschichte wird nicht durch eine Poesie der Bilder aufgebrochen. Die Veränderung, die Cassandra im Verlauf des Films durchmacht, überträgt sich nicht auf die filmische Form. Insbesondere dann, wenn Cassandra zu ihrer Familie zurückkehrt und die satirischen Elemente der ersten Hälfte entschwinden, löst sich das Versprechen der zuvor aufgebauten Dramatik nicht ein. Zero Fucks Given verwandelt sich in ein sozialrealistisches Familiendrama, in dem der Tod der Mutter verhandelt wird.

Da erzählt der Vater dann die Geschichte, wie er die Mutter kennengelernt hat, berichtet von der Magie des ersten Kusses, von Augenblicken und dem Wunder der Geburt. Das sind durchaus berührende Dialoge. Nur führen sie Weg von all den wunderlichen Szenen, die zuvor aufgehäuft wurden. Zero Fucks Given macht am Ende zu wenig aus seinem Ansatz. Statt den Kosmos der Billigairlines von innen heraus zu sprengen, sucht der Film Zuflucht im Schoß der Familie. Der Film bricht mit seinem Ort, verändert aber seine Erzählung nicht. Es wird einzig und allein auf die Kraft der Darstellerin vertraut. Von dieser Kraft hat Adèle Exarchopoulos einiges zu geben. Allein wegen dieser schauspielerischen Leistung lohnt sich der Film dann doch.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/zero-fucks-given-2021