Licorice Pizza (2021)

Schluss mit Rollenspielen

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

Alana (Alana Haim von der amerikanischen Band Haim) ist ziemlich oft wütend. Wobei wütend eigentlich nicht das richtige Adjektiv ist. Sie ist aufgebracht oder verliert die Fassung, was diese Figur und das neue Werk von Paul Thomas Anderson ziemlich angemessen beschreibt: "Licorice Pizza" ist ein Film, der in ständiger Bewegung dahinfließt, selbstverloren in seinen Bildern flaniert, nur um im nächsten Moment selbstbewusst sexy zu posieren. So ist die Stimmung im San Fernando Valley im Jahr 1973.

Die Dinge befinden sich im Umbruch. Da ist noch die alte Garde des männlichen Wahnsinns, die sich am alten Ruhm berauscht und die in diesem Film herrlich von Sean Penn, Tom Waits und einfach unnachahmlich von Bradley Cooper vorgeführt wird. Und gleichzeitig sitzt Alana vor ihrem Elternhaus und muss sich von ihrer Schwester sagen lassen, sie solle die Menschen um sich herum nicht immer so anfahren. Ihre Reaktion ist ein beherztes „Fuck off!“ – da will sich jemand nicht mehr unterordnen. Das mit der neuen Rolle ist aber auch alles andere als leicht.   

Alana ist 25 Jahre alt. Sie arbeitet für einen Fotoladen, dessen Besitzer ihr einfach so einen Klaps auf den Hintern verpassen kann. Von ihrer Zukunft hat sie keinen Plan. Womöglich wird sie sich einen reichen Mann suchen und – ja, was dann? Ganz tief in ihrem Innersten weiß Alana, dass sie ein anderes Leben führen will. Aber da sind eben auch die Normen und die Erwartungshaltungen. Und genau da platzt der 15-jährige Gary Valentine (Cooper Hoffman) in ihr Leben, der so anders ist als alle anderen.

Während andere Teenager einfach nur auf die Schule gehen, ist Gary ein erfolgreicher Kinderschauspieler und gewiefter Jung-Unternehmer, dem wirklich alles zu gelingen scheint. Bei einem Fototermin für das Schuljahrbuch begegnet er Alana und sieht in ihr seine künftige Ehefrau. Die zehn Jahre Altersunterschied scheinen ihn gar nicht zu interessieren, und so überredet er die junge Frau zu einem ersten Date. Alana wiederum ist fasziniert von diesem charmanten Jungen, und aus Cola und Peinlichkeit wird eine komplizierte und ganz und gar unkonventionelle Liebesgeschichte, wobei die beiden sich lange wie zwei Planeten umkreisen, sich anziehen und abstoßen. Zunächst werden auch eher gemeinsame Geschäfte gemacht.  

Paul Thomas Anderson gelingt das Kunststück, seinen Coming-of-Age-Film als Portrait einer Zeit anzulegen, die sich im Umbruch befindet. Natürlich geht es um die Liebe, aber eben auch um die sich wandelnden Normen. Liebe findet ja nie im luftleeren Raum statt. In Gary kündigt sich eine andere Männlichkeit an, die einerseits aufmerksam und zurückhaltend ist, während der unnachahmliche Geschäftssinn bereits auf den Geist des Silicon Valley verweist: Als erster in L.A. investiert er in Wasserbetten und ist ganz vorne mit dabei, alle verfügbaren Spielautomaten aufzukaufen, als sich die Rechtslage ändert.

Gespielt wird dieser Durchschnittstyp von Cooper Hoffman, dem Sohn des viel zu früh verstorbenen Philip Seymour Hoffman, der in diesem Film sein Debüt gibt. Diese durchweg geerdete Performance hat dabei etwas Gespenstisches. Cooper ähnelt seinem Vater in Erscheinung, Gestik und im Sprachduktus auf verblüffende Weise, dass man wirklich kurz davor ist, tatsächlich an Geister zu glauben. Mit dieser Verkörperung eines melancholischen Kämpfers, der sich irgendwo zwischen passivem Ertragen und selbstbewussten Angriff einpendelt, konnte bereits Philip Seymour Hoffman aus jeder noch so kleinen Nebenrolle die hellsten Funken schlagen. 

Die eigentliche Hauptfigur ist allerdings Alana, die zwischen allen Stühlen steht. Sie will ihr eigenes Ding durchziehen, in absoluter Selbstbestimmung leben. Auch die erfolgreiche Musikerin Alana Haim gibt hier ihr Schauspieldebüt und erzählt mit ihrem tiefgründig herausfordernden Blick von einem aufgekratzten Hadern, das an keiner Stelle ausgesprochen wird. Anderson erschafft lebendige Figuren, die ein komplexes Innenleben haben, das nicht immer mit ihren Handlungen in Einklang zu bringen ist. Daher schlingert Alana in ihrem Leben auch ganz schön herum: Sie kann sich doch nicht einfach in einen 15 Jahre alten Schüler verlieben! 

Die Koordinaten der Weiblichkeit verschieben sich, aber noch hat Alana die Freiheiten nicht verinnerlicht. Mehrmals versucht sie deshalb der klassischen Rolle zu entsprechen und sich einen älteren, reichen oder mächtigen Mann zu angeln. Am Ende heißt es dann meistens: „Fuck Off!“

All das weiß Paul Thomas Anderson in wunderschöne Bilder und atmosphärische Arrangements zu packen. Dabei wird in der Form, in der Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, ein ständiger Sinnüberschuss produziert. Ganz am Anfang, als die Kamera Alana zum ersten Mal einfängt, wird sie von hinten gefilmt, wie sie in einem sehr kurzen Rock an einer Reihe wartender Schüler_Innen vorbeigeht. Der Bildausschnitt ist so gewählt, dass man nicht umhin kommt, auf ihren Hintern zu starren: Hier ist er, der berüchtigte Male Gaze. Gleichzeitig fragt sie die Wartenden, wer denn einen Spiegel haben möchte. In der Toilette sind die Spiegel kaputtgegangen und gleich sollen alle auf den Jahrbuchfotos gut aussehen. Es ist schließlich Gary, der den Spiegel erbittet. Was in dieser komplexen Szene passiert, ist nichts anderes, als dass der Male Gaze zurückgeworfen und gebrochen wird: Was habt ihr euch gerade dabei gedacht, als ihr mir auf den Hintern geglotzt habt? Dieser Film ist locker-leichtes Kino von unaufdringlicher Tiefgründigkeit – eine Verführung der besten Form.  

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/licorice-pizza-2021