Das Ereignis (2021)

Eine einsame Entscheidung

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Frankreich in den 1960er Jahren. Die begabte Literaturstudentin Anne (Anamaria Vartolomei) ist wie ihre Kommilitoninnen vor allem mit dem bevorstehenden Examen beschäftigt, das über Zukunft entscheiden wird. Dann erfährt sie, dass sie schwanger ist. Sie fleht den Arzt an, ihr zu helfen, die Schwangerschaft zu beenden. Aber Abtreibung ist in Frankreich verboten, sie wird mit Gefängnis bestraft – für den durchführenden Arzt wie die Frau. Anne ist auf sich gestellt und muss sich entscheiden: Ihr Leben riskieren und abtreiben. Oder das Kind bekommen und ihre Zukunft opfern.

Es ist die Einsamkeit, die in Audrey Diwans Verfilmung des Buchs Das Ereignis von Annie Ernaux in fast jedem Bild zu spüren ist. Anne ist ohnehin eine Außenseiterin, schon immer gewesen – und wer Ernaux‘ Bücher kennt, weiß warum: sie kommt aus einfachen Verhältnissen, ihre Begabung hat ihr eine Aufstiegsmöglichkeit verschafft, sie aber auch in eine andere Welt mit bürgerlich strengen Regeln und Moralvorstellungen geführt. Sie hat nun Freundinnen, ist angekommen in dieser Welt, aber sie ist es auch gewohnt, sich um sich selbst zu kümmern. Indem die Kamera von Laurent Tangy immer ganz nah an Anne bleib und die Bewegungen sowie deren Geschwindigkeiten, die Perspektiven nahezu perfekt übereinstimmen, wird sehr deutlich, wie es sich für sie anfühlt, sich in dieser Welt zu bewegen. Dabei verstärkt sich ihre Einsamkeit noch mit der Schwangerschaft und der Suche nach Hilfe. 

Der Film erzählt von dieser Zeit in Annes Leben – er verurteilt nicht. Weder Anne noch die Ärzte, von denen einige ihre Macht über den weiblichen Körper ausnutzen und andere die Tat wenigstens nicht verurteilen, Anne jedoch nicht helfen. Doch er spart auch Körperlichkeiten nicht aus oder schaut weg – nicht beim Sex, beim Warten auf die Periode, bei dem verzweifelten Griff zur Stricknadel oder beim Einführen der Sonde in die Scheide. Die durch die Kamera und die Tonspur erzeugte Nähe zu Anne wird hier zu mehr als nur eine hervorragende Möglichkeit, Annie Ernaux‘ Subjektivität auf die Leinwand zu übertragen: sie erzeugt Identifikation, ob man will oder nicht. Und wenn sich Anne irgendwann vor Schmerzen krümmt, dann krümmt man sich fast mit. 

In der Rezeption des Films wurde diese Entscheidung zum Zeigen durchaus kritisiert – und es ist bezeichnend, dass es in einem Medium, das ganz andere schockierende Hardcore-Szenen kennt, diese Bilder zu viel sein sollen. Es sagt viel aus über den Umgang gerade mit weiblichen Körpern und Körperlichkeiten im Kino. Doch bei dem Erzählen über Abtreibung geht es auch darum, das Wie nicht auszusparen. Oftmals ist die Abtreibung nur ein Plot Point, eine Entscheidung, die von einer Frau getroffen wird – und dann geht es um die Nachwehen. Eliza Hittmans Never Rarely Sometimes Always war hier schon eine Ausnahme – aber die dort vorgenommene Abtreibung hat unter legalen Bedingungen stattgefunden. Indem in Das Ereignis nun die körperlichen Details erzählt werden, wird klar, wie es ist, wenn dieser Eingriff verboten ist. Annie Enaux schreibt in Das Ereignis „Es gibt keine minderwertige Wahrheit. Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt“ (Übersetzung von Sonja Finck). Das Ereignis löst genau das ein – und macht mehr als eindrucksvoll klar, dass ein gesetzliches Verbot der Abtreibung nicht Abtreibung verhindert. Es sorgt vielmehr dafür, dass Frauen ihr Leben riskieren müssen, um über ihren Körper selbst zu bestimmen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-ereignis-2021