Das Licht, aus dem die Träume sind (2021)

Ein letztes Bad in Zelluloid

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Bei mir war es der Zeichentrickfilm „In einem Land vor unserer Zeit“: der allererste Kinobesuch meines Lebens, im Sommer 1989, in einem beinahe ausgestorbenen, sachte verlotternden Schuhschachtel-Saal in Darmstadt – ein wahrhaft magisches Ereignis für einen Vierjährigen! Von diesem Zauber erzählt auch der Drehbuchautor und Regisseur Pan Nalin in seinem autobiografisch gefärbten Coming-of-Age-Drama „Das Licht, aus dem die Träume sind“. Er zeigt die cineastische Sozialisation des kleinen Samay (Bhavin Rabari), der mit seinem Vater Bapuji (Dipen Raval), seiner Mutter Ba (Richa Meena) und seiner jüngeren Schwester in der Provinz des indischen Bundesstaates Gujarat, der Heimat des Filmemachers, lebt.

„Du weißt doch, es ziemt sich für uns nicht, ins Kino zu gehen“, erklärt Bapuji seinem Sohn anfangs. Doch für einen religiösen Film über Göttin Mahakali wird eine Ausnahme gemacht. Und so lernt der neunjährige Samay die Lichtspielkunst und die Magie des Kinos kennen: das Gewusel und die Begierde des Publikums an der Kasse des örtlichen Galaxy-Kinos, den großen Raum, durch den kurz vor Vorstellungsbeginn noch eine weiße Taube flattert, die leuchtenden Farben auf der riesigen Leinwand, die durchdringenden Sounds, das sanfte Rattern des Filmprojektors. Pan Nalin inszeniert diese erste richtige Begegnung seines jungen Alter Egos mit dem Medium Film als Erweckungserlebnis, als einen 35-mm-Rausch, der alles im Leben des Protagonisten für immer verändert

Fortan will Samay Filmemacher werden – und natürlich noch viel mehr Zeit im Kino verbringen und Filme anschauen. Dafür schwänzt er dann auch die Schule, um sich heimlich ins Kinodunkel zu schleichen, bis er dabei erwischt wird. Ein Deal sowie eine stetig wachsende Freundschaft zum Filmvorführer Fazal (Bhavesh Shrimali) ermöglicht ihm schließlich die kostenlose Sichtung im Projektionsraum. Die Inszenierung findet zudem schöne Wege, um zu vermitteln, dass Samays Denken immer „filmischer“ wird: Der Blick durch buntes Glas, etwa durch eine grüne Flasche, lässt ihn visuelle Variationen der Wirklichkeit erkennen; aus den farbenfrohen Bildchen auf gebrauchten Streichholzschachteln, die er beim Schlendern neben den alten Bahngleisen aufliest, entwickelt er kreative Geschichten und erlernt so die spezielle Kunst der Narration durch Bilder.

Zweifelsohne ist Das Licht, aus dem die Träume sind von Nostalgie geprägt. Dennoch beschönigt der Film die Welt, die er zeichnet, nicht. Der Vater, der einen kleinen Imbiss am Bahnhof betreibt, ist streng; das Leben der Familie geht mit etlichen Entbehrungen einher. Und auch die erfüllende Kinoliebe erhält etwas Bittersüßes, als sich das Ende der Zelluloid-Ära ankündigt und damit die Schließung des Galaxy-Kinos droht. Dies führt indes zu zwei besonders eindrücklichen Momenten. Zum einen baut der einfallsreiche Samay mit einer Gruppe von Gleichaltrigen in einer Ruine im Nachbardorf ein improvisiertes eigenes Kino, ein kleines Refugium der Cinephilie. Und zum anderen muss Samay in einer herzzerreißenden Sequenz in einem Recycling-Hof mitansehen, wie (subjektiv betrachtet: wahnsinnig wertvolle) Filmrollen eingekocht werden, um zu billigen Plastikarmreifen verarbeitet zu werden. Der Junge, den der Leinwanddebütant Bhavin Rabari so innig und energisch verkörpert, reagiert darauf mit der fantastischen Vorstellung, ein letztes Bad, einen genussvollen Tauchgang im Zelluloid-Meer zu unternehmen. Ein wirklich tolles Bild – fast so unvergesslich wie der erste Kinobesuch.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-licht-aus-dem-die-traeume-sind-2021