Come on, Come on (2021)

Jung und Alt auf Augenhöhe

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Nicht selten wird US-Schauspieler Joaquin Phoenix auf Rollen reduziert, die ihn als psychisch angeknacksten, völlig aus der Bahn geworfenen, Grenzen überschreitenden Mann zeigen. Etwa im eindringlichen Thriller-Drama "A Beautiful Day", wo er einen derangierten Kriegsveteranen auf brachialem Selbstjustizkurs verkörpert, oder in seinem Oscar-Triumph "Joker", der die dunklen Ursprünge des ikonischen Batman-Widersachers ergründet. Dass Phoenix auch die leisen Zwischentöne beherrscht, beweisen hingegen Filme wie die kluge Science-Fiction-Romanze "Her", in der er als Melancholiker, der sich in die Stimme eines Betriebssystems verliebt, zu sehen ist. Wer trotz allem noch immer von seinen subtilen Darstellungsfähigkeiten überzeugt werden muss, sollte sich unbedingt Mike Mills' Roadmovie "Come on, Come on" vornehmen, das in einer gerechten Welt bei den großen Filmpreisen mehr Aufmerksamkeit erhalten hätte.

Wie ausgewechselt tritt uns Joaquin Phoenix hier nach seiner von Tics geprägten Tour-de-Force-Performance aus Joker gegenüber. Mills, der auch das Drehbuch verfasste, inszeniert den in Puerto Rico geborenen Mimen in der Rolle eines Radiojournalisten, dem das kürzliche Ende einer langjährigen Beziehung nach wie vor zu schaffen macht. Beruflich kümmert sich dieser Johnny um eine Reportage über die Ängste, Wünsche und Zukunftsträume junger Menschen und reist für seine Interviews quer durch die Vereinigten Staaten. In Detroit telefoniert er mit seiner Schwester Viv (Gaby Hoffmann), zu der er seit dem Tod ihrer demenzkranken Mutter keinen richtigen Kontakt mehr hatte. Gerade jetzt, wo Johnny unterwegs ist, kann Viv seine Hilfe gut gebrauchen. Weil sie ihren in Oakland weilenden psychisch kranken Ehemann Paul (Scoot McNairy) bei einem neuerlichen Rückschlag beistehen will, kommt ihr Bruder kurzerhand nach Los Angeles, um auf seinen neunjährigen Neffen Jesse (Woody Norman) aufzupassen.

Aus dieser recht klassischen Odd-Couple-Konstellation entspringt in Mike Mills' fähigen Händen ein leises, geistreiches Drama. Eine berührende Stimmungscollage, die in poetisch-konzentrierten, unprätentiösen Schwarz-Weiß-Bildern den Blick auf Kleinigkeiten und oft untergehende Alltagserfahrungen lenkt. Natürlich tun sich Johnny und der durchaus exzentrische, bizarre Geschichten referierende Jesse anfangs etwas schwer. Mit der Zeit stellt sich aber eine stetig wachsende Vertrautheit ein. Erst recht weil Viv ihren Aufenthalt bei Paul verlängern muss und Johnny kurzerhand beschließt, seinen Neffen mit auf die Interviewreise zu nehmen. Auch dieses Roadmovie-Element kennt man aus anderen Filmen, in denen ungleiche Protagonist*innen gemeinsam aufbrechen und sich langsam annähern. Come on, Come on hält sich jedoch nicht mit erzählerischen Konventionen auf, sondern entschleunigt permanent das Geschehen, um den Befindlichkeiten der Figuren ernsthaft nachzuspüren.

Durch seine Gespräche mit Jesse beginnt der Radiomoderator, sein Leben zu überdenken, und erkennt auf einmal, was es heißt, Verantwortung für einen kleinen Menschen zu tragen. In den bohrenden Fragen des Neunjährigen und den zunächst ausweichenden, später ehrlicheren Antworten seines Onkels lotet Mike Mills mit scharfem Auge für Nuancen das Verhältnis zwischen Jung und Alt aus. Wie wichtig ist es, Kinder gegen unschöne Wahrheiten abzuschirmen? Kann man ihnen vielleicht mehr zumuten, als man gemeinhin denkt? Und können Erwachsene nicht viel von der Klarsicht und der Unvoreingenommenheit der Kleinen lernen? Come on, Come on schneidet bewegende Überlegungen an und lässt Johnny und Jesse sich dabei auf Augenhöhe begegnen. Erweitert wird der tiefschürfende Diskurs durch die Interviews, die der Journalist für seine Reportage führt. Regelmäßig taucht der Film in die Unterhaltungen ein und fördert ein geistreiches, gesellschaftliche und familiäre Probleme offenlegendes Meinungsbild zu Tage. Allein den Kindern und Jugendlichen, die reflektiert über ihre Hoffnungen, ihre Sorgen und ein besseres Morgen sprechen, könnte man stundenlang zuhören.

Dass man dem zentralen Austausch zwischen Johnny und Jesse gebannt folgt, liegt nicht zuletzt an den eindrucksvollen Darbietungen der Hauptdarsteller. Indem er wohltuend zurückgenommen agiert, auf jede Form von Effekthascherei verzichtet, schafft Joaquin Phoenix einen bemerkenswert intimen Rahmen. So wenig Ego und so viel Fokus auf das bodenständige, nachdenkliche Wesen seiner Figur sieht man bei einem Hollywood-Star selten. Woody Norman, der eine unglaubliche Natürlichkeit an den Tag legt, hat es dadurch leichter, seinen anspruchsvollen Part mit der nötigen Sicherheit auszufüllen. Nicht nur Onkel und Neffe, auch die Schauspieler treffen sich auf derselben Ebene. Der Erfahrene blickt nicht auf den Jungen herab, nimmt ihn stattdessen als gleichberechtigten Partner wahr.

Hoch anrechnen muss man dem Regisseur und Drehbuchautor, dass er sein bedächtig dahingleitendes Roadmovie mit weiteren komplexen Themen spickt, ohne es zu überfrachten. Am Beispiel der eingangs noch leicht eingefrorenen Geschwisterbeziehung erzählt Mills etwas über familiäre Rollen und die Pflege eines nahestehenden Menschen. Ferner beschreibt der Film auf behutsame Weise, vor welche Herausforderungen eine psychische Erkrankung Angehörige stellt. Wer seelisch den Halt verloren hat, braucht echte Zuneigung und die Gewissheit, nicht fallen gelassen zu werden. Genau daher weicht Viv nicht von Pauls Seite, auch wenn es für sie manchmal schwer ist. Kleine, aber ergreifende Wahrheiten wie diese machen Come on, Come on zu einer Kinoperle von besonderem Wert.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/come-on-come-on-2021