Loving Vincent (2017)

Vincent lieben

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Kürzlich machte Vincent van Gogh Schlagzeilen, weil in seinem Gemälde Olivenbäume bei den Vorbereitungen zu einer Ausstellung die Überreste einer Heuschrecke entdeckt wurden. Sie muss ihm beim Malen in der freien Natur zwischen Pinsel und Leinwand geraten sein. Dass man das Insekt 130 Jahre lang nicht in der Farbe entdeckt hat, spricht dafür, dass es sich lohnt, auch bei den alten Meistern immer wieder genau hinzusehen. Im Kinojahr 2017 haben wir viele Filme über Künstler und speziell über Maler gesehen. Aber keinen wie Loving Vincent.

Die Handlung des Films erscheint zuerst einmal nicht übermäßig aufregend, vor allem wenn man mit der Lebensgeschichte des niederländischen Malers vertraut ist und um die bis heute mysteriösen Umstände seines Todes weiß. Ausgehend davon stricken die Regisseure Dorota Kobiela und Hugh Welchman eine Art Detektivgeschichte. Ein Brief des mittlerweile verstorbenen Vincent taucht auf, der seinem Bruder zugestellt werden soll. Die geplante Übergabe entwickelt sich immer mehr zu einer Ermittlung. Das Besondere dabei: Loving Vincent ist der erste Film, der komplett in Öl gemalt wurde. Zwar schlüpfen echte Schauspieler in die verschiedenen Rollen, laufen in Kulissen und vor Greenscreens auf und ab – die Aufnahmen dienen jedoch nur als Grundlage für 125 Künstler, die in insgesamt 65.000 Ölbildern van Goghs Stil imitieren. Was wir als Endresultat betrachten, ist eine Abfolge hochauflösender Fotografien dieser Bilder. Dass jeweils zwölf davon lediglich eine Sekunde Film ergeben, lässt den immensen Aufwand des Entstehungsprozesses erahnen: Jeweils der erste Frame einer Einstellung wurde auf eine Leinwand gebracht und fotografiert. Anschließend wurden Schritt für Schritt die beweglichen Teile des Bildes übermalt. Im fertigen Film sorgt diese Methode dafür, dass man an einigen Stellen das Häufen und Kräuseln der Farbschichten beobachten kann; sie erwachen dann gewissermaßen zum Leben.

Diese Sinnlichkeit ist schon Grund genug, Loving Vincent auf der großen Leinwand zu sehen. Bereits während des Vorspanns formen sich begleitet von der fragilen Musik Clint Mansells ineinanderfließende Farben zu den für van Gogh charakteristischen Strudeln und Wirbeln. Es ist, als könne man die in dicken Schichten aufgetragenen Farben berühren, die Struktur der einzelnen Pinselstriche fühlen. Douglas Booth spielt Armand Roulin, den Sohn eines mit dem Maler befreundeten Postboten (Chris O’Dowd). Er soll den Brief an dessen Bruder Theo van Gogh übergeben und trifft während der Suche auf Leute, die Vincent persönlich kannten. Sie erzählen ihm von den nur acht Jahren, in denen aus einem Amateur ein obsessiver Künstler wurde, der in dieser Zeit über 800 Gemälde schuf. In diesen Flashbacks sind die Bilder schwarz-weiß. Sie setzen sich aus wesentlich feineren Strichen zusammen, erscheinen beinahe fotorealistisch. In diesen Momenten verschwimmt beim Betrachter das Gefühl dafür, ob er einen Film sieht, Fotografien oder Malereien betrachtet – und irgendwie stimmt ja auch alles zugleich.

Manche Szenen in Loving Vincent wiederholen sich. Sie werden aus den Perspektiven der unterschiedlichen Figuren erzählt und sind auf ihrem jeweiligen Wissensstand. Auf diese Weise rekonstruiert das Drehbuch treffend die Dynamik von Dorftratsch. Jeder weiß immer nur ein bisschen oder beschließt ganz bewusst, nicht alles sehen zu wollen. Das genaue Hinsehen stößt einen auch im Hinblick auf die Machart des Films ab und an auf merkwürdige Phänomene: Die Schauspieler müssen overacten, damit die Feinheiten in ihrer Gestik und Mimik auch durch den verfremdend groben Malstil hindurch noch zu erkennen sind. Der Ton scheint losgelöst vom Bild zu existieren, zu Beginn wirken die Dialoge dadurch eigentümlich hölzern und überbetont. Hat man sich aber erst einmal an die besondere Form von Loving Vincent gewöhnt, rückt dieser Eindruck schnell in den Hintergrund.

Es gibt schließlich genug zu sehen. Die Settings und oftmals sogar die einzelnen Einstellungen des Films sind direkt von den Motiven van Goghs inspiriert, aber auch von den zahlreichen Briefen, die er unter anderem an seinen Bruder schrieb. An dieser Stelle kommen wir nun auch der Doppeldeutigkeit des Titels auf die Spur: mit den Worten „your loving Vincent“ – „dein dich liebender Vincent“ – enden van Goghs Briefe. Loving Vincent, das kann aber genauso gut aktiv eine Zuneigung bekunden: Vincent lieben. Der betriebene Aufwand bei der Entstehung des Films verweist schon auf den erbrachten Liebesdienst am Künstler. Ihn minutiös zu imitieren und damit Bewunderung auszudrücken, ist ein besonderer Weg, sich ihm und seiner Kunst tatsächlich anzunähern. Faktische Wahrheiten zählen dabei wenig, das muss auch der ermittelnde Armand letztlich akzeptieren. Bedeutender als das Wissen über Vincent van Goghs Todesumstände ist das Wissen über sein Leben und Werk.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/loving-vincent-2017