Endlich Tacheles (2020)

Der Enkel und die Schatten der Schoah

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Als die Nazis die jüdischen Bewohner Krakaus ins Ghetto und bald darauf in die Konzentrationslager schickten, war Yaars Großmutter Rina ein Kind. Der 21-jährige Berliner gehört zur dritten Generation nach dem Holocaust und hat es satt, mit dem Judentum immer die Opferrolle zu verbinden. Er möchte den „schwarzen Vorhang“ der Familiengeschichte loswerden und entwickelt zu diesem Zweck mit seinen Freunden Sarah und Marcel das Computerspiel Als Gott schlief. Darin sollen die Spieler*innen in die Rollen einer jungen polnischen Jüdin und eines SS-Offiziers schlüpfen, die sich in Krakau begegnen. Wie wäre es, überlegen Yaar und Marcel, von deren Angehörigen die beiden Charaktere inspiriert sind, wenn das Mädchen erfolgreich um das Leben ihres kleinen Bruders kämpft, oder wenn der SS-Mann den Kindern hilft?

Der Dokumentarfilm von Jana Matthes und Andrea Schramm erzählt die Coming-of-Age-Geschichte Yaars als eine Art Erfahrungsreise, die über mehrere thematische Ebenen führt. Sie erweist sich beispielsweise als sehr lebendiger und erhellender Beitrag zur Schlussstrichdebatte. Wie Yaar und sein nichtjüdischer Freund Marcel fragen sich viele junge Menschen in Deutschland, was der Holocaust eigentlich noch mit ihnen zu tun hat. Sollten junge Juden und Nichtjuden der dritten und vierten Generation nach dem Krieg die Vergangenheit nicht ruhen lassen und dann womöglich leichter aufeinander zugehen können? Marcel meint, es helfe niemandem, ewig auf der Vergangenheit herumzureiten. Yaar sagt seinem Vater, er wolle seinen eigenen Kindern später nicht das Wissen aufbürden, dass seine Familie umgebracht wurde. Aber da ist der junge Mann bereits in Krakau, auf den Spuren dieser Geschichte, und weint.

Yaars Entwicklungsreise führt über mehrere, sehr spannende und bewegende Etappen den Beweis, dass auch die Enkel der Holocaust-Überlebenden noch schwer von der Vergangenheit belastet sind, wobei sie besonders unter dem Schweigen der Eltern und Großeltern leiden. Hinter Yaars anfänglichem Wunsch, die Vergangenheit abzuhaken, steckt in Wahrheit das Bedürfnis, sich kontrovers mit dem Vater auseinanderzusetzen. Nach dem Krieg geboren, ist der Vater selbst gezeichnet von den Kindheitserlebnissen seiner Mutter in Krakau. Die alte Dame, die Yaar und er in Jerusalem besuchen, habe nicht die Wahrheit über den Tod des kleinen Bruders, dessen Erinnerung der Film gewidmet ist, erzählen können. Yaar und sein Vater erfahren in Krakau, wie das Kind Roman von der Gestapo umgebracht wurde. Der Vater erzählt Yaar, dass seine Eltern, die in Israel nach vorne schauten, um sich ein neues Leben aufzubauen, die Geburtstage ihrer Kinder nicht feiern konnten.

Schritt für Schritt, wie von seinem Unterbewusstsein an die Hand genommen, geht Yaar das Projekt des Computerspiels an. Es ist in Wirklichkeit ein Instrument, dessen tiefere Bedeutung er noch nicht kennt. In Krakau entwickelt er mit den Freunden die Spielcharaktere in einer leerstehenden alten Villa, die als Inspiration für den Schauplatz dient. Die Spieler*innen sollen, so plant es Yaar, sich von Stockwerk zu Stockwerk der damaligen Realität nähern, wobei die Erkenntnisse nach oben hin immer schlimmer werden. Er beschreibt so den Weg, den er selbst bereits geht. Yaar, seine Freundin Sarah und sein Vater sehen sich in Krakau um, besuchen das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Płaszow, in dem die Großmutter mit ihrer Familie war, sprechen mit den Nachkommen der polnischen Familie, bei der Rina und Roman zeitweise unterkamen. Vater und Sohn weinen viel und spenden sich gegenseitig Trost. Diese Passagen sind ungeheuer berührend.

Marcel, der einmal behauptet, sein Angehöriger, der bei der SS war, sei kein Nazi gewesen, verschwindet über weite Strecken aus dem filmischen Geschehen. Es erscheint richtig, dass sich die Handlung auf Yaars Entwicklung konzentriert und sich nicht auch noch schmerzliche, holprige Diskussionen zwischen Nachfahren von Opfern und Tätern aufbürdet. Aber Yaar, der in Deutschland aufgewachsen ist und lebt, muss eben im Alltag auch mit Nichtjuden sprechen, welche die Begegnung mit jüdischen Mitmenschen diffus verlegen macht oder zu zweifelhaften Phrasen der Betroffenheit verleitet. Das lässt der Film in wenigen Sätzen anklingen. Auch viele heutige Nachfahren der Tätergeneration müssten nämlich noch etwas bewältigen, was ihre Familien versäumten. Sicherlich ist die historische Wahrheit außerdem für jede neue Generation in diesem Land schwer zu ertragen. Ein Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem Holocaust hilft niemandem. Er stünde paradoxerweise auch den Bemühungen von Initiativen im Wege, den Austausch zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen über ihr Alltagsleben zu fördern.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/endlich-tacheles-2020