Klassenkampf (2021)

Rückkehr nach Oberriffingen

Eine Filmkritik von Falk Straub

Sobo Swobodniks Herz schlägt links. Der 1966 geborene Regisseur, Roman- und Kinderbuchautor hat schon Dokumentarfilme über Straßenmusiker, Sexarbeiterinnen, die NSU-Morde und einen preisgekrönten über das österreichische Allroundtalent Hermes Phettberg gedreht. In seinem jüngsten Werk setzt er sich mit seiner eigenen Herkunft auseinander. Es geht darum, warum er der Enge der Schwäbischen Alb entfloh und trotzdem bis heute nirgendwo angekommen ist. Eine dokumentarische Selbstbefragung und ein formales Experiment im Geiste Jean-Luc Godards.

Die Reise zu sich selbst beginnt auf der Schwäbischen Alb, irgendwo zwischen Aalen, Nördlingen, Heidenheim an der Brenz und Neresheim. Die Kamera fährt verlassene Straßen entlang, links und rechts gleiten Wiesen und Wälder, Felder und Windräder vorbei. Eine Frauenstimme zählt nüchtern Fakten auf, die Swobodniks Heimat in Raum, Zeit und Zusammensetzung verorten: „200 Einwohner, eine Hauptstraße, drei Seitenstraßen, ein Tante-Emma-Laden in der Kindheit, später keiner mehr, eine freiwillige Feuerwehr, zwei Gaststätten ein Weiher (...)“. Dazwischen Überschriften: „Die Landschaft“, „Das Dorf“, „Das Haus“, „Die Familie“, „Das Ich“. Eine Annäherung durch Aufspaltung.

In Swobodniks Elternhaus angekommen, erhält die Stimme aus dem Off im On einen Körper. Sie gehört der Schauspielerin Margarita Breitkreiz (Marija), die als Alter Ego des Regisseurs durch dessen Film und Gedanken führt. Im weißen Blümchenkleid und weinroten Doc Martens zertrümmert sie Erinnerungen, vervielfältigt sich und hält Zwiesprache mit sich selbst, weil auch Swobodnik einander widerstrebende Gefühle umtreiben. Elias Gottsteins beunruhigende Musik trommelt, rasselt, sägt und klimpert kongenial dazu. Es geht um den Drang, das Einengende der Provinz, der katholischen Enklave im pietistischen Schwaben und des eigenen Elternhauses hinter sich zu lassen – und um die Schwierigkeit, in den neu gewonnenen Freiräumen die eigenen Wurzeln nie vollständig kappen zu können.

Der Abnabelungsprozess vollzieht sich stufenweise. Lange Haare und zerschlissene Jeans heben Swobodnik aus dem konservativen Ortsbild heraus, das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg hebt ihn geistig über seine Altersgenoss:innen hinweg. Aus seinem Jahrgang gehen alle zur Bundeswehr, Swobodnik leistet Zivildienst im weit entfernten Regensburg, wo er sich seinen schwer verständlichen Dialekt abgewöhnt. Als er schließlich, statt Wirtschaft zu studieren, nach Berlin zieht und sich für die Künste entscheidet, schlägt „die Verständnislosigkeit der Eltern […] in apathische Resignation um“. Für Swobodniks Vater und Mutter, die sich zeitlebens über ihrer eigenen Hände Arbeit definiert haben, steht finanzielle Sicherheit über allem. „Der spärliche Lohn für ein geschriebenes Buch wiegt nicht einmal den einer gezüchteten zum Verkauf stehenden Sau auf“, sagt Breitkreiz auf einem alten jüdischen Friedhof in die Kamera. Und als Swobodnik seine Eltern Jahre später bei einem Berlin-Besuch am Bahnhof abholt, schämt er sich für sie.

Damit steht der Filmemacher nicht allein. Er führt gleich mehrere intellektuelle Kronzeug:innen an, denen es ganz ähnlich erging: die französischen Schriftsteller:innen Didier Eribon (Rückkehr nach Reims) und Annie Ernaux (Die Jahre) und ihre deutsche Kollegin Daniela Dröscher, die den Essay Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft geschrieben hat. Später gesellen sich Professoren wie Bildungsforscher Klaus Klemm und Soziologe Michael Hartmann hinzu, die aufzeigen, wie schlecht es um die Aufstiegschancen der Angehörigen der Arbeiterklasse bestellt ist und weshalb das keine guten Zukunftsaussichten für unsere Demokratie sind. Sie alle – von der Schriftstellerin bis zum Professor – sind nicht selbst im Bild, sondern werden von Margarita Breitkreiz verkörpert, die an dieser Stelle nun nicht mehr nur in einen inneren Multilog mit dem Regisseur, sondern in fiktive Dialoge mit linken Vordenker:innen tritt.

Unterfüttert werden diese kunstvoll in Szene gesetzten, abstrahierten Gespräche von Zitaten – von Sigmund Freud bis Pierre Bourdieu –, die der Schauspieler Lars Rudolph aus dem Off vorträgt. Im Bild zu sehen sind dazu Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Quallen und anderen Tieren, die einander überlagern. Ein Thesenfilm mit vielen Schichten.

Sobo Swobodnik treibt die Sorge um, dass die Klassen auch in Deutschland immer weiter auseinanderdriften und dass sich die Arbeiterklasse, anstatt sich ihrer selbst bewusst zu werden, zu solidarisieren und zu organisieren, in immer kleinere Einzelteile zerfällt. Das Problem liegt seiner Meinung nach nicht nur in Eliten, die der Arbeiterklasse so fern seien, dass sie diese nicht verstünden, sondern auch in Aufsteigern wie ihm, die sich ihrer Herkunft schämten. Breitkreiz formuliert es als Annie Ernaux treffend: „Man kommt nie wirklich an, wenn man die Klasse wechselt.“

Swobodniks Film zeigt, dass es auch anders gehen könnte. Dass man vielleicht gar nicht ankommen muss und die Verhältnisse trotzdem ändern kann. Doch das setzt voraus, sich seiner eigenen Lage bewusst zu werden. Der Erkenntnisgewinn erfolgt stufenweise. Eine erste Stufe ist mit diesem ebenso klugen wie unterhaltsamen Film erklommen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/klassenkampf-2021