Vortex (2021)

Abfluss des Lebens

Eine Filmkritik von Simon Hauck

„Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, Hat Gewalt vom höchsten Gott, Heut wetzt er das Messer, Es schneidt schon viel besser Bald wird er drein schneiden, Wir müssens nur leiden. Hüte dich schöns Blümelein!“

(deutsches Volkslied aus „Des Knaben Wunderhorn“)

„Nur die Lebenden haben Häuser“, heißt es am Ende von Gaspar Noés dokumentarisch-konzentrierter und gleichzeitig improvisiert-inszenierter Todessymphonie Vortex, die das argentinische Enfant terrible des französischen Kinos während der Corona-Pandemie und gleichzeitig nach seiner eigenen Nahtoderfahrung in wenigen Wochen gedreht hatte, ehe sie am Ende der letztjährigen Filmfestspiele von Cannes außer Konkurrenz Premiere feierte – und dort erneut für Aufsehen sorgte.

Doch wer bei seinem Namen lediglich an unvergessliche audiovisuelle Schockmomente (Irréversibel), drastisch-naturalistische Darstellungen des Austausches von Körperflüssigkeiten zwischen zwei Liebenden (Love) oder hochtourig-energiegeladene Film-auf-Speed-Exzesse (Enter the Void/Climax) denkt, ist als potenzieller Filmrezipient dieses Mal vollkommen auf dem Holzweg. Obwohl Gevatter Tod, wie in der Narration eines jeden Gaspar-Noé-Films, eine mehr oder weniger prominente Rolle einnimmt und im Falle von Vortex nach über zwei Stunden schließlich mit radikaler Konsequenz zuschlägt.

Der titelgebende Strudel (das englische Wort vortex bedeutet auf deutsch passenderweise auch „wirbelnde Bewegung“) hat nun das jahrzehntelange Eheleben eines hochbetagten Pariser Ehepaares endgültig ausgelöscht – und beide im selben Moment aus ihrer labyrinthischen Wohnungshöhle ultimativ befreit: ihn, den namenlosen Ehemann, ein notorisch-versponnener Cineast mit mehr oder weniger heimlicher Geliebter. Einen Mann mit vielen Eigenschaften und noch mehr Leidenschaften, der auch mit über 80 Jahren noch passioniert Filmkritiken schreibt und sich gerade an einem Filmbuch über das Kino und die Träume mit dem Arbeitstitel „Psyche“ versucht. Genau so hätte übrigens auch Noés letzter Film ursprünglich heißen sollen, was die durchgängig spürbare Selbstreferenzialität dieses Films unterstreicht. Zudem sind zahlreiche Filmplakate und Filmpublikationen, die um das Kino Fritz Langs kreisen und mehrheitlich aus der Privatsammlung des offensichtlich erwachsen gewordenen Regie-Enfant terribles Noé stammen, wiederholt in dessen erinnerungsbehaftetem Arbeitszimmer zu bestaunen.

Und sie: Die ebenfalls unbenannte Ehefrau, eine pensionierte Therapeutin, die trotz körperlicher Unversehrtheit im Kopf zusehends nicht mehr Herrin ihrer Sinne ist. Eine stille Frau, die sich beim Gang auf die Straße jederzeit verirren kann oder beim Versuch, im nahe gelegenen Lebensmittelladen einzukaufen, heillos überfordert ist. Für beide Rollen, die von der Thematik des Alterns und Sterbens wie vom bourgeoisen Pariser Setting her natürlich an Michael Hanekes Welterfolg Liebe (u.a. ein Oscar, vier europäische Filmpreise sowie die Goldene Palme von Cannes) erinnern, ohne dass sich der argentinische Skandalfilmregisseur je daran in plumper Art bedienen würde, hat der erstaunlich unprätentiös inszenierende Noé zwei kongeniale Hauptdarsteller gefunden.

Zum einen Italiens Giallo-Regie-Ikone Dario Argento (Profondo rosso/Suspiria): seines Zeichens ausgewiesener kinematografischer Maestro in puncto (Alb-)Traum, Horror, Schauder und Tod, der in Vortex bereits einen Schlaganfall hinter sich hat und dessen Herz bald nicht mehr schlagen wird. Und zum anderen die anrührend, jedoch nie gefühlsduselig spielende Francoise Lebrun, die einst in Jean Eustaches Die Mama und die Hure (1973) als Muse des Regisseurs und gleichzeitig an der Seite Jean-Pierre Léauds Filmgeschichte geschrieben hatte und nach vielen Jahren am Theater erst seit den 2010er-Jahren wieder in kleineren Rollen im Kino zu sehen ist.

Vor allem in ihrem von Krankheit und Desillusion gezeichneten Gesicht, das dennoch bis zum finalen Akt jederzeit mehr Würde denn Apathie ausstrahlt, spielt sich dieses packende Kammerspiel über Abschiede („Ich will nicht weg aus diesem Haus.“) und Abrechnungen („Was du gemacht hast, ist eine Katastrophe!“), aber auch letzte Hoffnungsschimmer („Ich werfe meine Vergangenheit nicht weg.“) wie finale Utopien („Das Leben ist ein Traum in einem Traum.“) en gros ab. Das wiederum ist, typisch Noé, fast durchgängig im dualen Splitscreen-Verfahren mitzuerleben, mitunter mitzuerleiden. Bis die Urnenwand mit der Nummer 25541 vor den Augen ihres missratenen Sohnes, eines Ex-Junkies (Kylian Dheret), ein letztes Mal geschlossen wird und damit der Abschiedsvorhang im beschwerlichen Leben beider Greise gefallen ist, auch wenn es vorher lange Zeit so aussah, als ob Sie zuerst in ein Heim für demente Senioren gehen müsste.

Vortex ist forderndes wie stellenweise melodramatisch überhöhtes, auch spitzzüngiges, aber nie rührseliges Kino der kontemplativen Art, das lange nachhallt und im beständig überraschungsreichen Oeuvre Noés jetzt schon einen Sonderstatus als erstes Alterswerk einnimmt. „Es gibt Wendepunkte in deinem Leben. Meine Mutter ist in meinen Armen gestorben, und wenn das passiert, ändert sich die Wahrnehmung dessen, was wirklich ist“, hatte Gaspar Noé in einem Interview mit der „New York Times“ erklärt, was folgerichtig nur noch einmal die Seriosität sowie die eigene Reflexionsfähigkeit hinter diesem Filmprojekt unterstreicht. Das ist in der Summe schonungslos ehrliches Kino, das mitreißt und auf der Leinwand über sich, seinen Schöpfer, die parallele Verzahnung mit der Filmgeschichte wie mit der eigenen Entstehungszeit während des Lockdowns rücksichtslos nachdenkt. Kurzum: Das ist Noés bis dato provokantester Film – und sein bester.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/vortex-2021