Encanto (2021)

Ohne Superkraft, aber mit Durchblick

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Die Superheld*innen-Filme des Marvel Cinematic Universe sind seit geraumer Zeit die Gelddruckmaschine des Disney-Konzerns. Figuren mit übermenschlichen Eigenschaften ziehen, locken ständig, selbst in der schwierigen Corona-Situation, Massen in die Kinos. Wenig verwunderlich wird dieses Erfolgskonzept nun auch auf einen hauseigenen Animationsstreifen übertragen. Erfreulicherweise hebt "Encanto" allerdings nicht so sehr auf die besonderen Fähigkeiten ab, sondern stellt vielmehr eine ganz normale Heranwachsende in den Mittelpunkt des Geschehens, die als Einzige vorausschauend handelt, als die außergewöhnlichen Kräfte ihrer Verwandten schwinden. Das Ergebnis ist ein farbenfrohes, verspieltes, manchmal nicht tief genug bohrendes Leinwandabenteuer, das einige lobenswerte Botschaften transportiert. 

Irgendwo in den Bergen Kolumbiens leben die Madrigals, unbehelligt von der Außenwelt, in einem magischen Schutzraum, dem titelgebenden Encanto, der ihnen einst durch eine Zauberkerze geschenkt wurde, wie es Großmutter Alma gleich zu Beginn erklärt. Das verwunschene Haus der Familie führt ein quirliges Eigenleben. Und alle Bewohner*innen erhalten schon in jungen Jahren eine übernatürliche Eigenschaft. Aus Gründen, die bislang nicht bekannt sind, blieb der kleinen Mirabel dieses Glück jedoch versagt. Die Angehörigen versichern ihr, dass sie dennoch dazugehöre. Wiederholt wird die inzwischen im Teenager-Alter angekommene Protagonistin aber von Menschen aus dem Dorf bemitleidet und fühlt sich insgeheim ein wenig als Außenseiterin. Nachdem sie mal wieder eine Initiationszeremonie eines anderen Madrigal-Mitglieds verfolgt hat, erkennt sie bedrohliche Risse im Haus und befürchtet den Verlust der Magie. Mirabels Warnungen will zunächst jedoch niemand hören.

Encanto, der mittlerweile 60. abendfüllende Trick- bzw. Animationsfilm aus der Disney-Schmiede, folgt dem Beispiel der ebenfalls vom Micky-Maus-Studio produzierten Arbeiten Die Eiskönigin – Völlig unverfroren, Vaiana, Die Eiskönigin 2 und Raya und der letzte Drache, die Heldinnen jenseits des alten Prinzessinnenklischees präsentieren. Junge Frauen, die entschlossen sind, ihren eigenen Weg gehen, ihre Identität erforschen und nicht auf den Mann ihrer Träume warten. Mirabel ist eine reizvolle Hauptfigur, einerseits mit ihrer Sonderposition hadernd, andererseits aber so empathisch, dass sie dem kleinen Jungen, dem die Offenbarung einer Gabe bevorsteht, in einer berührenden Szene den nötigen Mut zuspricht. Wie sie schließlich gegen Widerstände, vor allem die Skepsis ihrer wachsamen Oma, das Heft in die Hand nimmt, zeugt von Selbstbewusstsein und einem Durchblick, der den anderen fehlt.

Mirabels Nachforschungen, die sie irgendwann zu einem verschollenen Angehörigen führen, bietet den von Charise Castro Smith unterstützten Regisseuren Jared Bush und Byron Howard (gemeinsam an der animierten Toleranzparabel Zoomania beteiligt) ausreichend Gelegenheit, den Zauber ihres Settings in allen nur erdenklichen Farben auszumalen. Gerade in den Gesangspassagen legen die Macher*innen eine enorme kreative Energie an den Tag. Die vielen visuellen Spielereien – immer wieder tun sich neue Ebenen auf – dürften ganz kleine Zuschauer*innen allerdings mitunter überfordern. Hier und da hätten es auch weniger spektakuläre Einlagen getan. 

Die Fülle an Figuren erlaubt es nicht, besonders plastische Charakterporträts zu zeichnen. Wirklich facettenreich sind nur Mirabel und ihre Großmutter, über die Encanto von einem ergreifenden Fluchtschicksal erzählt. Eine einschneidende Erfahrung, die dazu führt, dass Alma die ihrer Familie geschenkte Magie mit aller Macht verteidigen will. Wenig verwunderlich gehört den beiden eine der bewegendsten Szenen im ganzen Film. Dass auf den letzten Metern in der Beschwörung des Zusammenhaltes ein Tick zu viel Zuckerguss über die Handlung gegeben wird und jeder Pott sein Deckelchen bekommt, kann man bedauern. Insgesamt vermittelt der optisch fantasievolle Animationsspaß seine zentralen Aussagen – die Persönlichkeit eines Menschen ist wichtiger als jede Superkraft, und eine individuelle Entfaltung wirkt herrlich befreiend – aber mit einer gehörigen Portion Charme.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/encanto-2021