W. – Was von der Lüge bleibt (2020)

Die zwei Seiten der Wahrheit 

Eine Filmkritik von Sarah Stutte

Als in der Schweiz 1995 das Buch Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 erschien, sorgte es über die Landesgrenzen hinaus für Aufsehen. Der Autor, ein gewisser Binjamin Wilkomirski, erzählte darin fragmentarisch und aus der kindlichen Perspektive als Ich-Erzähler von seinen Erlebnissen während des Nationalsozialismus. Er verbrachte diese Zeit als Flüchtling in zwei polnischen Konzentrationslagern, bevor er über Krakau in die Schweiz kam. 

Der früheste Moment, an den sich der jüdische Junge in dieser Autobiografie erinnern kann, ist die Ermordung eines Mannes durch Uniformierte in Riga, die er mitansieht. Er hält es für möglich, dass dieser ermordete Mann sein Vater ist. Sein Geburtsdatum nennt Wilkomirski nicht, weil er offenbar zu klein war, um sich genau daran erinnern zu können. Zusammen mit seinen Brüdern versteckt er sich auf einem Bauernhof in Polen und wird dort verhaftet. Im ersten KZ, in das man ihn bringt, begegnet er seiner Mutter ein letztes Mal. Erst in der Schweiz kann er Jahre später seine Vergangenheit in Erinnerungsfetzen rekonstruieren.

Das Buch wurde in zwölf Sprachen übersetzt, Wilkomirski bekam zahlreiche Preise für sein Werk und war in der Folge ein gefragter Zeitzeuge. Doch knapp drei Jahre danach, im Spätsommer 1998, erschien ein Artikel des Journalisten Daniel Ganzfried in der Wochenzeitung Weltwoche und entlarvte die Schilderungen als reine Fiktion. Wilkomirski wurde 1941 in Biel als Bruno Grosjean geboren und wuchs als uneheliches Kind in einem Waisenhaus in Adelboden (Berner Oberland) auf. Später adoptierte ihn das wohlhabende Paar Dössekker aus Zürich. 

Ein Historiker aus Zürich wird beauftragt, eine Abklärung vorzunehmen und stellt fest: In ziemlich vielen Punkten stimmen Bruno Dössekkers alias Wilkomirskis Erzählungen im Buch und die historischen Fakten nicht überein. Er kommt zum Schluss, dass die Geschichte das Resultat einer sogenannten Erinnerungsfälschung ist. Offenbar war der kleine Bruno von seiner Pflegemutter misshandelt worden und hatte diese Erlebnisse in seinem Gedächtnis einem anderen Kontext zugeordnet. Den Bauernhof gab es wirklich, nur nicht in Polen, sondern in der Schweiz. 

Nach 20 Jahren versucht der Filmemacher Rolando Colla mithilfe von Archivmaterial und Zeitzeugen den Beweggründen Dössekkers auf die Spur zu kommen. Dabei befragt er diesen auch selbst – das allein ist schon eine Leistung, denn Dössekker zog sich nach dem Skandal völlig aus der Öffentlichkeit zurück. Collas Dokumentation sieht man an, das viel Arbeit in ihr steckt. Sie ist detailliert recherchiert, exzellent aufgebaut und eröffnet in fünf Kapiteln immer neue Perspektiven.

Je weiter der Zuschauer in die Geschichte eintaucht, desto mehr Gedanken werden angeregt, über die Vielschichtigkeit des Lebens oder über die Glaubwürdigkeit von Informationen. Mitsamt den stimmig-beklemmenden Schwarz-Weiß-Animationen des Comiczeichners Thomas Ott, die bestimmte Momente herausstreichen, ist W. – Was von der Lüge bleibt spannend wie ein Krimi und ebenso erschütternd. 

Der Film nimmt uns mit auf die schmerzliche Reise in das Trauma eines schwierigen und einsamen Menschen, der zeitlebens nach Antworten und Zugehörigkeit suchte. Dafür verschob er seine Erinnerungen, von dessen Wahrhaftigkeit er vermutlich selbst überzeugt war. Wo fängt also die Lüge an und wo hört sie auf? Letztlich ist unser menschlicher Geist so komplex, dass manchmal mehrere Wahrheiten parallel zueinander existieren können.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/w-was-von-der-luege-bleibt-2020