Moleküle der Erinnerung - Venedig, wie es niemand kennt (2020)

Die Einsamkeit der Vorahnung

Eine Filmkritik von Dobrila Kontić

Mit klaren Zielen kam der italienische Regisseur Andrea Segre Ende Februar 2020 nach Venedig: Zwei Projekte über das Hochwasser-Problem und die Auswirkungen des Tourismus auf die beliebte Lagunenstadt wollte er realisieren. Doch das zu Beginn von „Moleküle der Erinnerung“ eingeblendete Zitat aus Albert Camus‘ Der Fremde lässt erahnen, dass Segre, wie so viele andere im vergangenen Jahr, seine Pläne kurzfristig geändert hat. Und die düsteren sphärischen Klänge von Teho Teadro, die das noch dichte Gewimmel von Touristenströmen untermalen, deuten auf einen umfassenderen Richtungswechsel in der Intention des Regisseurs hin.

Segre, der in seinen bisherigen Dokumentar- und Spielfilmen und als Gründungsmitglied des sozialen Filmverbunds ZaLab Themen von gesellschaftlicher Brisanz fokussierte, präsentiert mit Moleküle der Erinnerung einen ganz persönlichen, fast schon intimen Blick auf Venedig, das die Geburtsstadt seines inzwischen verstorbenen Vaters Ulderico ist. Dieser, darauf rekurriert Segres gedankenvolle Erzählung aus dem Off immer wieder, ist durch seine Schweigsamkeit dem Sohn stets ein Rätsel geblieben. Der Regisseur nähert sich diesem nach und nach, sinniert über die Super-8-Aufnahmen, die Ulderico und dessen Bruder Giuliano in ihrer Jugend in den 1960ern von der Stadt und sich gedreht haben und so vieles, das zwischen Vater und Sohn tragischerweise unausgesprochen geblieben war. Zugleich nimmt Moleküle der Erinnerung aber auch das sich Anfang März zunehmend leerende Venedig in Augenschein und spricht mit langjährigen Einwohner*innen, die sich trotz pandemiebedingter Belastungen freuen, ihre Stadt wieder für sich zu haben.

Die deutsche Tagline Venedig, wie es niemand kennt trifft insofern zu, als uns Segres Doku diese so häufig in strahlenden Fotografien präsentierte Stadt in klaren, kühlen Bildern einfängt, die eine mystische Ruhe ausstrahlen: Mit den Besuchern ist auch der hohe Wellengang abgeebbt, die Weite des Markusplatzes wird sichtbarer und der Regisseur filmt seine einsamen Spaziergänge durch die Gassen und über die Brücken. Doch Moleküle der Erinnerung ist mehr als eine bloße Begehung Venedigs zu Pandemiezeiten.

Der forsche Blick ins väterliche Rätsel und die Sorge um die weitere Existenz Venedigs, das mit sinkenden Fundamenten, dem steigenden Wasserspiegel und Rissen in der Materie zu kämpfen hat, fügen sich nach und nach sinnstiftend zusammen. Langsam enthüllt Segre, was es mit dem anfänglich eingeblendeten Camus-Zitat zu den „Jahren, die noch kommen sollten“ in diesem Kontext auf sich hat und weshalb es Ulderico zeitlebens umtrieb. Und man kommt beim Betrachten nicht umhin zu erkennen, dass diese so sehenswerte nachdenkliche Abhandlung über die Einsamkeit der Vorahnung und die Demut im Angesicht des Unausweichlichen nur in Zeiten der äußeren Bedrohung und tiefen inneren Einkehr entstehen kann.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/molekuele-der-erinnerung-venedig-wie-es-niemand-kennt-2020