Rot (2022)

Das rote Monster Pubertät

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Pubertät ist einfach eh schon keine einfache Sache: Man fühlt sich schon ziemlich erwachsen und selbstbewusst, aber die Eltern sehen das leider noch nicht wirklich ein, und dann wächst und verändert sich dieser Körper einfach noch, eines Morgens wachsen überall Haare…

All die Coming-of-Age-Geschichten in Kinder- und Jugendfilmen, ob als Drama oder als Komödie, gehen Kindern und Jugendlichen inzwischen ja manchmal ganz schön auf die Nerven, die immergleichen Konflikte. Dabei passieren die wirklich spannenden Auseinandersetzungen womöglich auf einer geradezu viszeralen, unmittelbar körperlichen Ebene.

Wie desorientierend, beängstigend das sein kann, thematisiert das Kino eigentlich nur auf einer direkt ins Horrorgenre abrutschenden schiefen Ebene, die vom so harmlosen wie furchtbaren Teen Wolf (damals, mit Michael J. Fox) abrutscht in Richtung blutiger Menstruationsmetaphern von Carrie bis Ginger Snaps.

Rot ist natürlich nichts davon, es leiht sich die Farbe allein, versteckt in einer freundlichen Farbsymbolik ("Rot ist eine Glücksfarbe", beschwichtigt der Vater der Protagonistin seine Tochter einmal nur bedingt glaubwürdig), aber zugleich nichts verbergend. Denn als die 13-jährige Mei Lee sich eines morgens in einen riesigen Roten Panda verwandelt sieht, haarig, streng müffelnd, ungelenk, da denkt ihre Mutter dann doch als erstes daran, dass Meis erste Periode begonnen habe, und rückt mit einem Stapel Schmerzmittel und Binden an.

Niedlicher war Körperhorror nie zu sehen, nie zu haben. Mei verwandelt sich, sobald sie emotional ein wenig aus den Fugen gerät, mit einem hörbaren Puff und in viel rosa Rauch in besagten Panda, das ist so ein Familiending auf der weiblichen Seite, aber das weiß sie an diesem ersten Morgen natürlich noch nicht. Etwas später dann bringt ihr Antoben gegen die übergroßen Körperteile das ganze Haus zum Beben. Die Eltern halten das stoisch aus: Das ist schon eine hardcore Pubertätsparabel.

Dies also: Diese Verwandlung, ihre Umstände und ihre Folgen, all das ist perfekt dazu geeignet, den jungen Nachwuchs ebenso vor der Leinwand oder dem Bildschirm zu bannen wie die durch nicht ganz wörtlich ebensolche Verwandlungen leidgeprüften Eltern von Teenagern. Mit anderen Worten: Pixar hat mit Rot schon wieder einen nahezu perfekten Familienfilm geschaffen.

Regisseurin Domee Shi positioniert ihre Handlung dabei sehr genau an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit: Chinatown, Toronto, im Jahr 2002. Dass es genau das Jahr ist, in dem sie als Chinesisch-Kanadische 13-jährige in Toronto lebte, ist womöglich kein Zufall. Es gibt ihr aber die Möglichkeit, nicht nur selbstgebrannte CDs zu zeigen und Tamagotchis als randständiges Handlungselement einzuführen (yeah!), sondern auch noch mit 4*Town eine zeitgemäße Boyband – und zu deren Konzert will Mei mit ihren besten Freundinnen unbedingt hin!

Shi ist die erste Frau, die bei einem Pixarfilm den Regiestuhl allein besetzt – vor ihr gab es nur Brenda Chapman, die sich den Job zehn Jahre zuvor bei Merida – Legende der Highlands mit Mark Andrews teilen musste. Zusammen mit Produzentin Lindsey Collins hat sie die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, eine Geschichte zu erzählen, die sich praktisch nur um Mädchen und Frauen dreht – bei Pixar immer noch eine Seltenheit, um es zurückhaltend zu sagen.

Und was für Personen das sind: Mei selbst ist schon eine ziemliche Nummer („mildly annoying“ und „major weirdo“ wird sie von anderen genannt, wenn der Film mal wieder, Shi macht das gerne, die vierte Wand fröhlich durchbricht und das Publikum direkt anspricht), ihre Freundinnen Miriam, Priya und Abby sind, jede auf ihre Art, kleine Vulkane von Energie und Selbstbewusstsein. Das funktioniert auch ganz gut, ohne dass sie sich in irgendwelche Tiere verwandeln.

Wie seinerzeit schon in Teen Wolf bleibt Meis besondere Eigenschaft an ihrer Schule nicht lange ein Geheimnis, und die Mädchen wissen das für ihre Zwecke, also den Besuch des 4*Town-Konzerts, auch zu nutzen. Aber es intervenieren Familienerwartungen, Meis so dominante wie verzweifelt-liebevolle Mutter Ming (im Original von Sandra Oh gesprochen) und deren noch dominantere Mutter, die auch noch einen Schwung Tanten mitbringt.

Rot erzählt von matriarchalen Strukturen, die Sicherheit und Untersstützung ebenso enthalten wie Erwartungen und Zwänge – da steckt in wenigen Szenen mehr Ambivalenz als in ganzen deutschen Beziehungskomödien.

Und natürlich sieht der Film einfach sensationell gut aus. Der Pixar-Stil gefällt ebenso, aber er wird noch ein wenig weitergedreht, jede kleine Szene wirkt choreographiert (gerade auch im Selbstdarstellungsdrang der vier Protagonistinnen), es mischen sich Elemente und Übertreibungen aus der Anime-Ästhetik so nahtlos wie überdeutlich hinzu. (Und das Essen, das Meis Vater kocht, sieht einfach deliziös aus, auch darin zeigen sich Spuren von Chis oscarprämiertem Kurzfilm Bao.)

Wie ganz nebenbei ist das stellenweise brüllend komisch, mit visuellem Slapstick, mit cleveren Sprachspielen, mit Gags und liebevollen Seitenhieben auf das mühsame Dasein und den Enthusiasmus von Teenagern („Tomorrow we are walking into that concert and walking out women!“).

Im Finale steht die architektonische Stabilität von halb Toronto zur Disposition, aber selbst in diesem Durcheinander findet Domee Shi einen Ort der fast meditativen Ruhe. Mehr kann Kino eigentlich nicht zusammendestillieren.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/rot-2022