Nicht dein Mädchen (2019)

Eine Odyssee in die Hölle

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Sie sind eine seltsame kleine Reisegemeinschaft, der Saatgutvertreter Richi (Moisé Curia) und die kleine, vielleicht achtjährige Magdalena (Anna Malfatti): Er ist nicht ihr Vater, dafür ist er viel zu jung, ihr Bruder auch, er gehört nicht einmal zur Familie, wie sie bei einem Zwischenstopp einem aufmerksamen gewordenen Wirt gegenüber bekennt. Und doch sind die beiden unterwegs in seinem Wohnmobil mit unbekanntem Ziel. Was den Gastwirt im Süddeutschen auf das Mädchen aufmerksam machte, war die Tatsache, dass sie ihrem Begleiter gegenüber ein paar Worte in Ladinisch sprach, jener sehr selten gewordenen Sprache, die vereinzelt noch in Teilen Südtirols und des Dolomitengebriges spricht und die auch er beherrscht. Und so ist seine Neugier geweckt und auch sein Misstrauen, was es mit dem blassen, schüchternen und dünnen Mädchen auf sich hat. Sein Verdacht ist, wie sich herausstellen wird, nicht unbegründet.

Oftmals sind es Zufälle wie jener zuvor geschilderte, die die Polizeibehörden auf die Spur skrupelloser Kinderhändler und ihrer Opfer führt. Der Fall von dem die italienische Regisseurin Isabella Sandri erzählt, ist kein wahrer, sondern vielmehr ein dramaturgisch verdichteter. Doch er könnte einer sein. Immer wieder wechselt die Geschichte den Fokus und zeigt einerseits die Fahrt von Richi und Lena, die mutmaßlich zu einem „Kunden“ führt, der dafür bezahlen wird, das Mädchen zu missbrauchen. Auf der anderen Seite verfolgen wir die Spurensuche der engagierten Polizistin Milia Demetz, die aus Rumänien stammt, doch in Diensten einer italienischen Sondereinheit für Cyberverbrechen und Kindesmissbrauch steht. Ein harter Job, in dem sie sich Tag für Tag mehr ansehen muss, als ein Mensch ertragen kann. Und doch hält sie durch, betreut von einer verständnisvollen Psychologin (Valeria Golino). Und als sich die Hinweise verdichten, wo die kleine Lena sich befinden könnte, verlässt sie endlich ihren Platz hinter dem Schreibtisch und begibt sich mit einem Kollegen auf die Jagd nach dem Entführer, die sie schließlich in ihre Heimat führt.

Jahrelang recherchierte die Filmemacherin Isabella Sandri für ihren Film bei der Polizei und bei verschiedenen Organisationen, die sich mit Pädophilie und den damit zusammenhängenden Cyberverbrechen beschäftigt. Und dieses tiefe Eintauchen in eine Welt voller Grausamkeit und Abgründigkeiten der menschlichen Seele merkt man dem Film auch an. Beispielsweise daran, wie viel Wert Sandri darauf legt, die Belastungen der Ermittlerin und deren psychologische Unterstützung genauestens zu schildern. Sie weiß um die Gefahren, die die tägliche Beschäftigung mit kinderpornographsichen Inhalten und das Mitlesen von Chats in einschlägigen Foren mit sich bringt. Auch wenn das Leid der Kinder noch um ein Vielfaches größer ist.

Es sind überwiegend dunkle und triste, aber niemals zu düstere Bilder, in die Isabella Sandri ihre Geschichte taucht: Die ramponierte Schäbigkeit des Wohnmobils, in dem eine Plastikpalme und ein paar achtlos hingeworfene Decken den Bilderhintergrund für eilig geschossene, aufreizende Bilder des Mädchens dienen, zerfallene Häuser als Treffpunkte und entvölkerte, schläfrige und zerbröckelnde Dörfer auf dem Weg zum eigentlichen Ziel sind die Symptome einer Gesellschaft, die immer mehr in Arm und Reich zerfällt und in der jede/r auf sich allein gestellt ist und sehen muss, wie man eben so durchkommt. Den Preis dafür zahlen oftmals die Schwächsten und Kleinsten, doch wenn Menschen zum Humankapital, zur Ware werden, die an den Höchstbietenden verhökert werden, dann ist das innerhalb der perversen Logik eines entfesselten Marktes nur folgerichtig, dass davon selbst Kinder nicht ausgenommen sind – Hauptdache, es findet sich ein Interessent, ein Käufer. Und davon gibt es, davon zeugen auch zahlreiche Fälle der letzten Zeit, in denen Pädophilennnetzwerke aufgeflogen sind, erschreckend viele.

Dennoch entgeht der Film der Gefahr allzu einfacher Erklärungsmuster: Richie ist nicht einfach nur ein Schwein, sondern ein zutiefst unsicherer Mensch, bei dem man eigentlich nie genau weiß, wie er in eine Sache wie diese hingeraten ist. Zweifellos besitzt er ein gewisses Talent für den Umgang mit Kindern und fühlt sich in ihrer Gesellschaft wahrscheinlich wohler als unter Erwachsenen. Das entschuldigt freilich nicht sein Handeln, gestaltet sein Agieren aber ambivalenter als das seiner anonymen „Kundschaft“.

Was den Kindern wie Lena auf ihrem Leidensweg genau widerfährt, das zeigt der Film nicht beziehungsweise nur in Andeutungen, die schnell in Abstraktionen übergehen. Dennoch ist Nicht dein Mädchen ein Film, der sich unter die Haut und über die Augen ins Hirn bohrt und dessen Eindringlichkeit sein Publikum nicht so schnell loslässt. Und das ist nicht zuletzt den Augen zu verdanken, auf die die Kamera immer wieder fokussiert: die verängstigten Augen Lenas, die ungläubigen und verzweifelten Augen Milias und die gehetzt wirkenden Richis. Diese Augen, diese Blicke, sie lassen einen nicht so schnell los.

Redaktionelle Anmerkung:

Durch die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Kinoschließungen startete der Film ab 25.5.2021, dem Internationalen Tag der verschwundenen Kinder, online über den Verleih W-Film auf einer eigens eingerichteten Streaming-Seite. Nun, da die ersten Kinos bereits wieder öffnen konnten, werden „echte“ Kinotermine folgen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/nicht-dein-maedchen-2019