Madame Claude (2021)

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Im Paris der späten 1960er Jahre leitet Madame Claude mit großem Erfolg ein edles Bordell. Hunderte junge Frauen arbeiten für sie, Diplomaten und Stars gehören zu ihren Kunden. Sylvie Verheydes Netflix-Film "Madame Claude" versucht die aufregende Zeit nach 1968 einzufangen und hält sich dabei an die Begebenheiten um das Leben der mächtigen Bordell-Betreiberin Fernande Grudet, die als Madame Claude in die politischen Intrigen und Skandale der Zeit verwickelt war. Dabei scheinen allerdings weder dieser Hintergrund noch seine Figuren den Film so richtig zu interessieren.

Madame Claude, alias Fernande Grudet (Karole Rocher), begutachtet die junge Sidonie (Garance Marillier) mit scharfen, kalten Augen. Sie hat Potenzial. Sidonie ist eingestellt und arbeitet fortan als eine der engsten Vertrauten von Madame Claude. Ihre besondere Eleganz und Gerissenheit, ihre herausragenden Fertigkeiten im Umgang mit Kunden führen Sidonie in jene „besonders heiklen Missionen“, die Madame Claudes Mädchen etwa im Auftrag des französischen Geheimdienstes ausführen. Madame Claude bewegt sich zwischen Unterwelt und Polizei, zwischen der Freiheit, die ihre Machtposition mit sich bringt, und den immer enger werdenden Kreisen, die ihre Feinde genau deswegen um sie ziehen. 

Den Hintergrund für die Ereignisse, die Madame Claude nachzeichnet, bildet vor allem der Skandal um den Fall Marković, einen bis heute ungeklärten Mord am Leibwächter des Schauspielers Alain Delon, der seine Kreise bis in die französische Politik zog. In einem Umfeld von organisierter Kriminalität und geheimdienstlicher Auftragsarbeit zielt Madame Claude vor allem auf eine Sache: Ihre persönliche Macht zu erhalten, um nie wieder in Armut leben zu müssen. Für sie sind Intrigen und Machtspiele nur Mittel zum Zweck, notwendige Dienste zur Absicherung ihrer eigenen Freiheit, ihrer über alles geschätzten „Unantastbarkeit“. Gegen so ziemlich jeden Prominenten und Politiker hat sie etwas in der Hand, über jeden kann sie kompromittierende Informationen beschaffen.

Im Vordergrund des Films stehen die persönlichen Motive, die Madame Claude antreiben, das schwierige Verhältnis zu ihrer entfremdeten Tochter, die Distanz zu jeder persönlichen oder gar verbindlichen Partnerschaft, die mütterliche Rolle für „ihre Mädchen“. Sidonie ist in diesem Netz der Beziehungen, das vollkommen von Madame Claude kontrolliert wird, zugleich Tochter und Geliebte, aber auch Nachfolgerin der zunehmend um ihren Machterhalt kämpfenden Claude. Sidonie selbst ist die Tochter eines Diplomaten, sucht scheinbar das aufregende Leben, ist in Wahrheit aber auch vor ihrer eigenen Vergangenheit auf der Flucht. 

Madame Claude verbindet die Fäden dieser zahllosen Geschichten seiner beiden Protagonistinnen durch Szenen der immer wieder in ihrer ganzen Alltäglichkeit ausgestellten Arbeit im Bordell. Trunkenes Feiern, professionelle Verführungen, Tänze der leicht bekleideten Mädchen, die für Claude arbeiten und bald zu Sidonie aufschauen. Es gelingt dem Film in diesen Bildern die Kälte der Geschäftsmäßigkeit ins Bild zu setzen, mit der alle Lust und Erotik immer wieder zurückführen zum prüfenden Blick der Chefin, die ihr Kapital taxiert. In Madame Claudes Welt sind alle Menschen und deren Beziehungen nutzbare Objekte, die entweder Macht sichern oder die Macht anderer untergraben; die entweder Geld bringen oder Geld kosten.

So streng diese Logik sich durchzieht, so wenig generiert der Film daraus interessante Perspektiven. Prostitution ist ein Geschäft mit Körpern und Lust, gelenkt von den Interessen derjenigen, die davon profitieren. Hier: Madame Claude und diejenigen, die wiederum Claudes Position benutzen, um ihre eigene Macht zu erhalten. Wer für wen arbeitet, wer eigentlich wessen metaphorische Prostituierte ist, lässt sich nie so genau sagen. – Ein wirklich sehr alter Hut der Inszenierung von Prostitution, der auch hier nicht zu neuen, unerwarteten, interessanten Einsichten führt. Nichts daran vermag den Protagonistinnen des Films Wärme und Ausdruckskraft zu verleihen, sie bleiben starre Motive im Setting „Prostitution“. Auch Sidonie hat den Weg zu Madame Claude nur gefunden, weil ihr Vater sie als Kind missbraucht hat. So unterkomplex bleiben alle Punkte, die Madame Claude lediglich anreißt und meist schnell wieder aus dem Blick verliert.

Unklar bleibt etwa, warum gerade die Marković-Affäre so prominent immer wieder erwähnt wird, wenn der Film sie nach einigen Zeitsprüngen gänzlich zu vergessen scheint. Unklar ist auch, was die Beziehung zwischen Sidonie und Madame Claude spezifisch erzählen soll: Freundschaft und Liebe sind wirklich unmöglich, wenn es um Prostitution geht? Die Mutter, die ihre leibliche Tochter für den eigenen Erfolg verstoßen hat, sucht sich bedeutungslose Ersatztöchter? Die junge Generation ist hungriger nach Macht als die schwindende Grande Dame? Alle Prostituierten haben eine traumatische Vergangenheit? All dies erscheint in Madame Claude lediglich als eine Sammlung uninspirierter Motive und Schablonen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/madame-claude-2021