Brother's Keeper (2021)

Schüler in kafkaesker Not

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Ein neuer Morgen im Jungeninternat im hintersten Anatolien. Unter den Kommandos des herrischen Personals beeilen sich die Schüler, den Schlafraum zu verlassen. Yusuf (Samet Yildiz) gelingt es aber nicht, seinen Freund Memo (Nurullah Alaca) zum Aufstehen zu bewegen. Der Junge liegt nur reglos da. Yusuf will den Erwachsenen melden, dass Memo krank ist und Hilfe braucht. Doch wie dringt man als Zwölfjähriger zu Lehrern durch, die einen anschreien und wegschicken, sobald man sie anspricht? Während Yusuf zwischen viel Warterei kleine Fortschritte erzielt, bringt ihn der Ernst der Lage, in der sich sein Freund befindet, an den Rand der Verzweiflung.

Am Anfang des Films muss Memo eine drakonische Strafe mit kalter Dusche über sich ergehen lassen. Nachts fürchtet er sich schrecklich und will zu Yusuf ins Bett kriechen, aber der Freund weist ihn ab. Das Wenige, was man zu sehen bekommt, erklärt den Zustand des Jungen am nächsten Tag nicht wirklich. Yusuf muss Memo auf Befehl aus dem Bett holen. Als sich Memo erbricht und zusammensackt, soll ihn Yusuf untergehakt auf eine Krankenstation auf dem verschneiten Gelände bringen. Dort muss erst das vereiste Schloss aufgetaut werden, dann erscheint ein Jugendlicher, der Memo Aspirin verabreicht. Gruselige Spannung breitet sich in diesem kafkaesken Szenario aus, in dem Yusuf immer wieder um Aufmerksamkeit für seinen nicht ansprechbaren, bald bewusstlosen Freund bettelt.

Dieser dramatische Spielfilm des in Istanbul lebenden Regisseurs Ferit Karahan (The Fall From Heaven) stammt aus dem Jahr 2021 und wurde auf der Berlinale in der Sektion Panorama und auf vielen weiteren Filmfestivals rund um den Globus gezeigt. Er schildert die erschütternden Zustände in einem der vielen Provinzinternate in der Türkei. Das Drehbuch, das Karahan mit seiner Frau Gülistan Acet verfasste, basiert auch auf seinen eigenen Erfahrungen in einem Internat in den 1990er Jahren. Karahan, der kurdischer Abstammung ist, siedelt die Geschichte ebenfalls in der kurdischen Region an, welche die Schüler im Fach „Türkische Geografie“ Ostanatolien nennen müssen. Es gebe keine kurdische Region, werden sie belehrt. Die Lehrer kommen aus anderen Regionen und der Zweck dieser schulischen Bildung ist auch die sprachliche, kulturelle Assimilierung.

Aber wie der Regisseur in einem Statement erklärt, sind diese Internate für viele Kinder der einzige Weg, um aus einem vorgezeichneten dörflichen Leben als Bauern oder Hirten herauszutreten. Ob die Lehrer und Betreuer die Jungen auch deswegen so schlecht behandeln, weil sie auf Kurden herabsehen, bleibt jedoch offen. Karahan konstruiert das Drama als Parabel, macht es zu einem eindringlichen Lehrstück über die verheerenden Folgen einer gewalttätigen, autoritären Erziehung und Umgangskultur. Die Schüler, die von Laien gespielt werden, stehen auf der untersten Stufe in einem Machtgefüge, in dem jeder nach oben buckelt und nach unten tritt. Yusuf steht oft als stiller, befremdeter Zuschauer am Rande, während Schüler und Personal korrupte Geschäfte abwickeln, oder wenn dem endlich aufgekreuzenden Lehrer (Ekin Coç) und dem Direktor (Mahir Ipec) dämmert, dass die Schule für einen medizinischen Notfall nicht gerüstet ist. Zu allem Überfluss schneit es noch kräftig – keine Seltenheit in der Region – und der Versuch, den Kranken im Pkw wegzubringen, scheitert.

Irgendwann stehen sie dann da an Memos Krankenbett, der Direktor, ein paar Lehrer, Schüler und Handwerker, die zu Befragungen gerufen werden. Die Erwachsenen versuchen herauszufinden, was am Vorabend wohl geschehen sein mag. Die Spannung steigt ins schier Unerträgliche, während die Rettungskräfte auf sich warten lassen und die Kette enthüllter Missstände und Fehlverhaltens immer länger wird. Dieser grimmige Film legt schonungslos frei, wie Machtmissbrauch, Angst und Lügen die Menschlichkeit korrumpieren und sogar die Freundschaften zwischen Schülern befallen.

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/brothers-keeper-2021