Die heilende Kraft des Entblößens (2021)

Stangentherapie

Eine Filmkritik von Matthias Pfeiffer

Ein Blick auf die Social-Media-Plattformen verrät: die Pole-Stange ist längst aus der schmuddeligen Ecke der Fleischbeschau ausgebrochen. Die Frauen, die sich auf Instagram und Tik Tok um die Stangen winden, sehen sich nicht als Stripperinnen, sondern trainieren ihre körperlichen und psychischen Kräfte. Diese Entwicklung ist wohl vor allem der Schauspielerin Sheila Kelley zu verdanken, die mit ihrem Programm S-Factor die Strip-Stange der weiblichen Emanzipation öffnete. Michele Ohayon stellt mit ihrem Dokumentarfilm „Die heilende Kraft des Entblößens“ nun diese Welt auch den bisher Uneingeweihten vor.

Schon in den ersten Minuten macht dieser Film klar, dass es hier nicht um feuchte Männerträume und fliegende Geldscheine geht. Kelley will ihren Schülerinnen die Macht über ihren Körper und ihre Sexualität zurückgeben, die ihnen von gesellschaftlichen Konventionen und persönlichen Traumata geraubt wurden. Der Film betont das häufig, jedoch bräuchte es das überhaupt nicht. Die Geschichten seiner Akteurinnen sprechen ganz für sich selbst. Als roter Faden lässt sich das Schicksal von Evelyn lesen, fünfzig Jahre alt und Witwe. Seitdem sie ihren Mann verloren hat, sind Zärtlichkeit, Selbstvertrauen und Optimismus gänzlich aus ihrem Leben verschwunden. Mit S-Factor versucht sie nun neuen Lebensmut zu finden. Andere Frauen sind traumatisiert von sexueller Gewalt, Selbsthass und religiöser Indoktrinierung. Eine Teilnehmerin kämpft mit dem Pole-Dancing sogar gegen ihren Krebs an, der ihr Haare und Brüste geraubt hat, „Körperteile, die für die meisten Frauen die wichtigsten sind“.

Man merkt schnell, in Die heilende Kraft des Entblößens geht es um mehr als die Beschreibung eines Fitness-Phänomens. Die Regisseurin will weibliches Selbstbewusstsein zelebrieren, eine Möglichkeit zeigen, auf feminine Art und Weise mit Unterdrückung und Ausbeutung fertig zu werden – und beides letztendlich mit einem positiven Gefühl für den eigenen Körper zu überwinden.

Aus filmischer Sicht geht sie dabei konventionelle Wege. Die Frauen erzählen ihre Geschichten nicht nur im Kreis des Trainings, sondern auch direkt in die Kamera. Weitere Erzählerinnen holt sie sich mit der Tänzerin und ehemaligen Pornodarstellerin Amy Hazel und Jenyne Butterfly hinzu, die unter anderem durch den Cirque du Soleil bekannt ist. Die Pole-Dancing-Welt wird hier also in ihrer Breite, über den Kreis von S-Factor hinaus gezeigt. Diese Erweiterung ist natürlich einleuchtend, lenkt den Fokus jedoch mitunter von der Gruppe ab, um die sich dieser Film im Grunde dreht. Zwar stehen ihre Mitglieder und ihr Leiden immer wieder im Vordergrund, doch der eigentliche Transformationsprozess wird zu einem von vielen Handlungssträngen. Dabei hätte es gereicht, sich auf ihn zu konzentrieren, um die Aussage des Films zu unterstreichen. Die emotionalsten Momente sind die, in denen die Frauen sich in der Runde öffnen, teilweise unter Tränen zusammenbrechen und in diesem Raum, der schon eine Zuflucht vor der Welt geworden ist, Trost finden. Ein wenig kommt das Gefühl auf, Ohayon würde ihren Bildern nicht voll und ganz trauen. Stattdessen werden die selben Aussagen gerne wiederholt. Ungeachtet ihrer Wichtigkeit, ermüdet das bei einer Dauer von knapp zwei Stunden doch an manchen Stellen.

Trotzdem ist Die heilende Kraft des Entblößens grundsätzlich ein interessanter Dokumentarfilm geworden – vor allem für jene, die mit dieser Thematik noch überhaupt nicht in Berührung gekommen sind. Und trotz der ganzen Tragik, die sich durch ihn zieht, funktioniert er letzten Endes auch als ehrlicher Feel-Good-Movie.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-heilende-kraft-des-entbloessens-2021