Pelé (2021)

Vom Schuhputzer zum Ballkünstler

Eine Filmkritik von Falk Straub

Auf die ewige Frage nach dem besten Fußballspieler aller Zeiten – Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi? – könnte die Antwort Edson Arantes do Nascimento lauten. Der Brasilianer gewann als einziger Spieler der Geschichte drei Mal die Weltmeisterschaft, ist bis heute Top-Torschütze seines Nationalteams und netzte in seiner Karriere mehr als 1000 mal ein. In der Welt des runden Leders ist der 1940 geborene Kicker besser unter seinem Spitznamen Pelé bekannt, der zu einer globalen Marke avancierte. Wer sich Ben Nicholas' und David Tryhorns gleichnamigen Dokumentarfilm ansieht, begreift schnell, dass dieser Name nicht nur künstlerisch anmutet, sondern sein Träger am Ball auch wie ein Künstler agierte.

Sport ist eine wundervolle Sache. In erster Linie mag er der körperlichen Ertüchtigung und dem Wettbewerb dienen. Und dort, wo sich damit Geld verdienen lässt, ist er längst zum reinen Kommerz verkommen. Dann ist häufig davon zu lesen, dass der Sport seine Seele verloren habe, als sei das Spiel mit dem Sportgerät und gegen einen Gegner etwas Metaphysisches. In seinen besten Momenten aber bringt er tatsächlich eine*n Sportler*in oder eine Spielsituation hervor, die nicht nur wie von einem anderen Stern wirken, sondern auch wie ein Kunstwerk.

Michael Jordan, der auf seinem Weg zum Basketballkorb in der Luft zu schweben scheint; Usain Bolt, der auf der Tartanbahn kurz vor der Ziellinie im 100-Meter-Sprint scheinbar abbremst, um für die Fotografen zu posieren; Nadia Comăneci, die bei den Olympischen Spielen 1976 am Stufenbarren eine perfekte Übung turnt; Petra Felke, die den Speer 80 Meter weit wirft – das alles sind Momente für die Ewigkeit, die die Gesetze der Physik scheinbar außer Kraft setzen. Bei vielen Jugendlichen hängen sie als Poster an der Wand. Sie würden sich aber auch im Museum gut machen. David Foster Wallace (1962-2008) wusste das. Der US-Schriftsteller hat dem Tennisspiel des Schweizers Roger Federer einen Essay gewidmet. Darin schreibt er von einem „Federer-Moment“. Pelés Karriere war voller „Pelé-Momente“. 

Am besten ist dieser Dokumentarfilm auch immer genau dann, wenn wir Pelé in Aktion sehen. Dann lösen sich die Bilder von der Narration. Dann ist der Film ganz beim Sportler Pelé und mit ihm im „Tunnel“: völlig aufs Spiel fokussiert und die Welt drumherum ausgeblendet. Ein Dokumentarfilm über einen der größten Fußballer aller Zeiten funktioniert freilich nicht ohne den Menschen Pelé. Hier hält das Regieduo den Ball flach. Überraschungsangriffe und gewagte Kombinationen sind nicht ihr Ding. 

Pelés dritte und letzte WM, 1970 in Mexiko, ist der dramaturgische Dreh- und Angelpunkt. Ob der alternde Star zu seiner alten Form zurückfinden und ein drittes Mal Weltmeister wird, lautet die Frage, die der Film indirekt stellt. Die Antwort darauf erzählt er wie eine Heldenreise – von Pelés Anfängen, als er noch im Kindesalter als Schuhputzer für die Familie dazuverdiente, über seinen kometenhaften Aufstieg beim FC Santos bis in die Gegenwart. 

Dass der einstige Weltklasse-Dribbler inzwischen einen Rollator vor sich herschiebt, ist ein bewusst gesetzter Kontrast. Ansonsten scheut der Film allzu große Irritationen. Immerhin haken die Regisseure kritisch nach, wenn es um die Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) geht, lassen den Star aber allzu leicht wieder vom Haken. Seine Rolle spielt Pelé bis heute herunter. Und auch die im Film interviewten Weggefährten meinen es gut mit ihm.

Bei seiner ersten WM, in deren Finale er zwei Tore schoss, war Pelé erst 17 Jahre alt. Der Trubel um seine Person, die den jungen Mann förmlich erdrückte, erinnert unweigerlich an zwei andere WM-Helden, die vor Kurzem mit einem Dokumentarfilm bedacht wurden: den Argentinier Diego Maradona und den deutschen Finaltorschützen Mario Götze. Anders als bei Götze erlitt Pelés Karriere nach dem Triumph keinen Knick, und anders als bei Maradona stürzte Pelé nicht privat ab. Auch der Dokumentarfilm über ihn steht irgendwo dazwischen. Er ist nicht so aseptisch wie Aljoscha Pauses Being Mario Götze (2018), aber eben auch kein Kunstwerk wie Asif Kapadias Diego Maradona (2019).

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/pele-2021