Mass (2021)

Die Schwere der Trauer

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

Jay (Jason Isaacs) und Gail (Martha Plimpton) haben ihren Sohn verloren, der einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist. Es gibt keine Erklärung für die Gewalt, die dieses junge Leben so jäh beendet hat; das Unerklärliche der Tat wird zum Schmerz, um den herum die Eltern mit quälender Wut kreisen. Diese lähmende Hilflosigkeit verbindet sie auf tragische Weise mit Linda (Ann Dowd) und Richard (Reed Birney), die mit der Schuld leben müssen, dass der eigene Sohn zum Mörder geworden ist.

Sechs Jahre sind seit dem Amoklauf an der Schule vergangen. Nun treffen die Paare in einer kleinen Kirche aufeinander. Sie wollen die Geschehnisse gemeinsam verarbeiten, Trost und Antworten finden. Dabei nähern sie sich dem Unaussprechlichen in einem intensiven Gespräch an, in dem es vor allem um die Elternrolle und die damit verbundene Verantwortung geht. Wieso konnten Jay und Gail ihr Kind nicht beschützen? Und haben Linda und Richard die Neigung ihres Sohnes zur Gewalt einfach nicht wahrhaben wollen?

Fran Kranz wählt für sein Regiedebüt eine radikale Form: Mass spielt nahezu ausschließlich in einem Raum. Vier Menschen sitzen an einem Tisch und sprechen miteinander; sie weinen, brüllen und schweigen. Es gibt keine Rückblenden, keine Bilder der Tat. Was genau passiert ist, blitzt nur in den fragmentarischen Erzählungen der Eltern auf, die jeder Zuschauer für sich selbst verarbeiten muss. Der Täter, der ohne jede Empathie seine Opfer erschießt, ist gleichzeitig auch der Sohn, der sich in der Welt nicht zurechtgefunden hat und von seinen Mitschülern gemobbt wurde. Da sind die lebendigen Erinnerungen an das Leben auf der einen und die abgeklebten Umrisse der Opfer als Zeugnisse des Todes auf der anderen Seite. Es gibt keine Eindeutigkeit und auch keinen Erklärung. Bis auf den Tod ist alles eine quälende Möglichkeit.     

Doch wird man diesem Film nicht gerecht, wenn man ihn als bloßes Kammerspiel begreift. Vielmehr muss der Filmtitel in seiner Doppeldeutigkeit ernstgenommen werden. Mass, das ist Totenmesse und abstrakte Masse zugleich. Es ist das Ritual eines gemeinsamen Gedenkens und ein verzweifeltes Ansprechen gegen eine kaum bezwingbare Schwere aus Wut, Verzweiflung und Trauer, die jeden Moment in diesem Film ausfüllt, obwohl es keine Bewegung der Bilder in Mass gibt.

Gerade durch die filmische Form der Reduzierung werden die Zuschauer_Innen in eine aufmerksame Anspannung gezwungen. All die intensive Dynamik entsteht durch den Rhythmus der Dialoge, bei denen es weniger um den Inhalt als um die Art und Weise des Ausdrucks geht. Wie Zurückhaltung ins sich zusammenfällt, die Wut an der Oberfläche aufschlägt, die Anklage spuckt und das Bitten sich zusammenkrümmt – all das ist von einer unbeschreiblichen Intensität, die vor allem durch die grandiosen Leistungen der Schauspieler_Innen erzeugt wird.

Durch diese Verengung des filmischen Raums steht Kranz jedoch auch vor der Herausforderung, ein angemessenes Ende oder vielmehr einen Ausstieg aus der Intensität zu finden. Das aber will dem Regisseur nicht so recht gelingen. Die emotionale Kraft, die der Film entwickelt, reißt ihn förmlich mit. So bleibt es nicht bei der Anbahnung der Vergebung, die einen Raum für eigene Gedanken und Auseinandersetzung gelassen hätte; am Ende wird alles ausbuchstabiert, die Bilderlosigkeit durch Überdeutlichkeit torpediert. Als würde der Filmemacher seine Zuschauer_Innen nach all der Zumutung nicht ohne einen hoffnungsvollen Schlussakkord entlassen können, lässt er seinen Film ganze drei Mal enden. Ein solch plumpes emotionales Auffangnetz wird der vorangegangen radikalen Dramaturgie und dem komplexen Thema nicht gerecht. Bis dahin ist Mass aber eine in jeder Hinsicht gelungene Auseinandersetzung mit der zerstörerischen Kraft von Gewalt und den moralischen Herausforderungen für die Hinterbliebenen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mass-2021