Coda (2021)

Unverstanden

Eine Filmkritik von Markus Fiedler

Rubby Rossi ist das einzige hörende Mitglied ihrer ansonsten gehörlosen Familie. Menschen wie sie werden auch „CODA“ genannt. Morgens vor der Schule hilft die 17-Jährige ihren Eltern und ihrem Bruder, damit diese ihr Fischereigeschäft in Gloucester am Leben erhalten können. Als Ruby dem Chor ihrer High School beitritt, entdeckt sie schnell nicht nur ihre Leidenschaft für das Singen, sondern fühlt sich auch zu ihrem Gesangspartner Miles hingezogen. Weil ihr Chorleiter Bernardo Villalobos etwas Besonderes in Rubby zu hören glaubt, ermutigt er sie, über eine Zukunft an einer Musikschule nachzudenken und das Fischereigeschäft an den Nagel zu hängen. Dies bringt die junge Frau in einen Konflikt zwischen der Verantwortung gegenüber ihrer Familie und ihres Traums, Sängerin zu werden.

Dass ausgerechnet Coda bei den Oscars 2022 alle drei Oscars (Bester Film, Beste männliche Nebenrolle, bestes adaptiertes Drehbuch) abräumte, für die der Film nominiert war, dürfte für viele Filmfans eine Überraschung gewesen sein. Denn den meisten regelmäßigen Kinogängern war der Film vermutlich gar nicht bekannt. Das liegt an seiner Historie. Im Januar 2021 gewann Regisseurin und Drehbuchautorin Sian Heder für ihre Adaption des französischen Films Verstehen Sie die Béliers? beim renommierten Sundance Film Festival gleich vier Preise, unter anderem für die Regie, das beste Drama und den Publikumspreis. Der Apple-Konzern, der zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Suche nach Material für den eigenen Streamingdienst war, erwarb die Rechte an Heders Film und veröffentlichte Coda am August 2021 exklusiv (abgesehen von ein paar US-Kinos) auf Apple TV+. Weil der aber durch sein überschaubares Angebot immer noch ein Nischendasein führt, hat kaum jemand bislang den Film gesehen – und damit eine der schönsten Coming-of-Age-Geschichten der vergangenen Jahre verpasst.

Ruby Rossi (Emilia Jones) führt ein ungewöhnliches Leben. Als einziges Familienmitglied, das hören kann, muss die 17-jährige nicht nur jeden Morgen mit Vater Frank (Troy Kotsur) und Bruder Leo (Daniel Durant) vor der Schule zum Fischen hinausfahren, sondern auch den Rest des Tages für ihre Familie dolmetschen, sei es beim Arzt oder beim Verkauf des Fangs. Für sich selbst und ihre Ideen vom Leben bleiben da wenig Zeit. Als Ruby aber im Schulchor entdeckt, wie gut sie singen kann und wie viel Spaß ihr das macht, möchte sie mithilfe des Musiklehrers Bernardo (Eugenio Derbez) für die Aufnahme an einer Hochschule üben. Das trifft allerdings bei ihrer Familie, besonders bei ihrer Mutter Jackie (Marlee Matlin), auf wenig Verständnis …

Heder lässt den Hauptplot des Originals weitgehend unangetastet, verlegt die Handlung aber an den Ort, an dem sie selbst aufgewachsen ist: eine Stadt in Massachusetts, die vom Fischfang lebt. Eine gute Idee, denn der spielt in Coda eine prominente Rolle und Heders Inszenierung zeigt einfühlsam den Alltag und die Sorgen der Fischer vor Ort. Das sorgt nicht nur für viel glaubwürdigen Lokalkolorit, der die Story immer wieder erdet, er macht Rubys Zerrissenheit zwischen ihrem Traum und der Verantwortung für ihre Familie in wirtschaftlich schweren Zeiten auch nachvollziehbar. Coda erhält allein dadurch ein emotionales Gewicht, das viele andere Storys vom Erwachsenwerden und Abnabeln vom Elternhaus nicht vorweisen können.

Damit ein Szenario zum Leben erwacht, braucht es aber immer auch gute Schauspieler. Heder drückte gegen den Willen der Produzenten durch, dass die gehörlose Familie auch von gehörlosen Schauspielern verkörpert werden sollte. Und landete damit einen echten Glücksgriff, dessen Oscar-Adelung nur die Spitze des Eisberges ist. Denn neben dem wunderbar witzig und schräg aufspielenden Troy Kotsur sind auch Oscar-Preisträgerin Marlee Matlin (beste weibliche Hauptrolle 1987 für Gottes vergessene Kinder) und Daniel Durant als ungewöhnlicher großer Bruder absolut sehenswert.

Dreh- und Angelpunkt ist aber Emilia Jones, die bislang hauptsächlich Genre-Fans für ihre Rollen in Pascal Laugiers Ghostland und der Netflix-Serie Locke & Key, die Adaption eines Comics von Stephen Kings Sohn Joe Hill, bekannt war. Für Coda bereitete sich die mittlerweile 20-jährige akribisch vor, lernte während der Dreharbeiten zu Locke & Key neun Monate lang Zeichensprache und später am Set auch den Umgang mit einem Fischerboot. Beides verleiht Coda eine fast greifbare Authentizität und unterstreicht das ohnehin fesselnde Spiel der jungen Britin.

Siân Heder war sich der Stärken ihres Films offenbar bewusst, denn sie verzichtet komplett auf inszenatorische Kniffe und verlässt sich voll auf ihren tollen Cast und die perfekt zur Story passenden rauen, aber wunderschönen Natur der US-Ostküste. Der Film zeigt dabei ein gutes Gespür dafür, potenziell kitschige Momente schnell durch galligen Humor oder ruppige Dialoge zu entschärfen und Coda nie gefühlsduselig, sondern stets emotional erscheinen zu lassen. Und dass Heder es durchaus darauf abgesehen hat, ihr Publikum eher über das Gefühl als über den Intellekt anzusprechen, daraus macht der Film keinen Hehl. Spätestens im grandios gespielten Finale dürften nah am Wasser gebaute Zuschauer den Kampf gegen den stetig wachsenden Kloß im Hals denn auch verlieren.

Ein perfekter Film ist Coda sicherlich nicht. So löst sich trotz aller Authentizität manch ein Handlungsstrang zu einfach in Wohlgefallen auf, um wirklich realistisch zu wirken. Auch das eine oder andere Klischee kann Heder nicht umschiffen. Und mit Ferdia Walsh-Peelo bleibt ausgerechnet der in Sing Street so großartig aufspielende Jungschauspieler als Rubys Love-Interest ein wenig zu blass, um diesen Teil der Story auf die gleiche Qualität zu hieven, auf der sich der Rest des Films bewegt. Das ist aber letztlich Meckern auf hohem Niveau, denn Coda begleitet seine Heldin mitreißend auf ihrer Reise in ein anderes Leben und entlässt das Publikum mit einem Lächeln im Gesicht und einem warmen Gefühl im Bauch.

Um den Kreis zu schließen: Natürlich drängen sich Vergleiche mit Green Book auf, der 2019 nicht nur fast genau die gleichen Oscars (Original-Drehbuch statt adaptiertes) gewann, sondern auch von vielen Kritikern als Fehlurteil bezeichnet wurde, die The Favourite oder Roma vorne sahen. Und doch hatte Green Book auf viele Zuschauer genau die gleiche Wirkung wie sie nun auch Coda hat. Pures, zeitloses und emotionales Erzähl-Kino, dessen kleine Schwächen kaum ins Gewicht fallen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/coda-2021