Der schönste Junge der Welt (2021)

Schönheit und Vergänglichkeit

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Luchino Visconti und männliche Schönheit – bei dieser Kombination kommt uns womöglich zunächst einmal der Name Helmut Berger in den Sinn. Der österreichische Schauspieler (Jahrgang 1944) wurde durch seine Auftritte in Viscontis Werken (etwa „Die Verdammten“ oder „Gewalt und Leidenschaft“) zur Ikone und galt einst als „schönster Mann der Welt“. Wie ausbeuterisch der schwierige Umgang mit solchem Ruhm und das Verblassen der Schönheit und des Glamours dokumentarisch eingefangen werden kann, zeigte der rundum misslungene Film „Helmut Berger, Actor“ (2015) von Andreas Horvath, der einzig und allein auf Voyeurismus setzte.

Das Duo Kristina Lindström und Kristian Petri erinnert uns nun in dem Dokumentarporträt Der schönste Junge der Welt daran, dass Visconti noch einen weiteren (sehr) jungen Mann zum Idol machte: Björn Andrésen. In der Literaturverfilmung Der Tod in Venedig (1971) verkörperte dieser den adoleszenten Tadzio, der mit seinen schulterlangen, blonden Haaren und seiner gedankenverloren wirkenden Art zum Faszinosum für den Komponisten Gustav von Aschenbach (gespielt von Dirk Bogarde) im Laufe von dessen Venedig-Reise wird.

Während der Name des Schauspielers, der später unter anderem in einer 2010 ausgestrahlten Episode der Krimireihe Mankells Wallander und in einem prägnanten Nebenpart in Ari Asters Horrordrama Midsommar (2019) zu sehen war, vermutlich nur wenigen geläufig sein dürfte, hat sich das Bild des Jungen im Matrosenanzug oder am Strand fraglos ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Die Rolle sorgte dafür, dass Andrésen in Japan vorübergehend zum Popstar wurde und dort mit seinem androgynen Äußeren auch ein Manga inspirierte.

Lindström und Petri greifen auf Archivmaterial zurück, um den Casting-Prozess und die Dreharbeiten zu Der Tod in Venedig zu dokumentieren. Wir sehen, wie Visconti mehrere Länder bereist, um nach dem passenden Tadzio-Darsteller zu suchen. Auch in die Probeaufnahmen mit Andrésen erhalten wir Einblick – und diese Bilder erzeugen, insbesondere in der Post-#MeToo-Ära, rasch extremes Unbehagen: Der 15-Jährige wirkt schutzlos und überrumpelt, als er dazu aufgefordert wird, seinen nackten Oberkörper zu präsentieren. Wir erfahren, dass Andrésen in erster Linie bei seiner Großmutter aufwuchs – und diese sich einen Star als Enkel wünschte. Was als „cooler Ferienjob“ begann, wurde für Andrésen alsbald zur Belastung.

Die alten Aufzeichnungen der Pressekonferenz bei den 24. Internationalen Filmfestspielen von Cannes, wo Der Tod in Venedig mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurde, machen noch deutlicher, wie überfordert der Jugendliche von der plötzlichen Aufmerksamkeit war – und wie wenig hilfreich sich vermeintliche Autoritätspersonen wie Visconti verhielten. Andrésen fehlte jegliche Form von Schutz und Halt. Als dokumentarische Variante zu Spielfilmen wie Judy (2019) über die Ausbeutung junger Menschen im Classical-Hollywood-Studiosystem und als Ergänzung zu Studien über neuere Phänomene wie Framing Britney Spears (2021) ist dieses Werk ein wichtiges Puzzlestück im Gesamtbild eines missbräuchlichen Systems innerhalb der Unterhaltungsindustrie.

Wenn das Regie-Duo den heutigen Andrésen als hageren, grauhaarigen und noch immer sehr introvertiert anmutenden Mann Ende 60 begleitet, könnte das schnell in jene voyeuristische Art abdriften, die Helmut Berger, Actor oder das gängige Reality- und Trash-TV an sich haben. Doch Lindström und Petri respektieren Andrésens Zurückhaltung. Wenn Andrésen sich im Laufe des Films mehr und mehr zu öffnen beginnt und uns immer Privateres mitteilt, geschieht dies nie auf erzwungene Weise und wird auch nicht unnötig ausgestellt. Trotz seines Titels ist es letztlich nicht Der schönste Junge der Welt, dem hier das Interesse gilt, sondern der Mensch und dessen Geschichte dahinter – aber gänzlich ohne die Sensationsgier anderer Filme oder Fernsehformate, sondern voller Empathie und mit hohem Erkenntnisgewinn.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-schoenste-junge-der-welt-2021