Hochwald (2020)

Tanz den Schmerz

Eine Filmkritik von Simon Hauck

„Gut machscht du das, Mario. Hättest doch bei mir Metzger lernen sollen. Statt Zuckerbäcker in der Stadt!“, raunt Hermann seiner Aushilfskraft zu Beginn von Evi Romens grandiosem Neo-Heimatfilm "Hochwald" beim gemeinsamen Wursten vor totbleichen Fliesen und bedrohlichem Arbeitslicht zu. Wenige Momente später ist der Südtiroler Dorfmetzger mit der abgründigen Spießbürgerfassade mit demselben Mario (überragend nicht nur in den Tanzszenen: Thomas Prenn) in einem dunklen Lagerraum verschwunden, wo der ihn lustlos sexuell befriedigt.

Einen 50-Euroschein später driftet der als „tuntiger Dorfdepp“ verspottete Mario einmal mehr durch die Nacht, in den düsteren Wald, zur nächsten lokalen Disco oder zum Bahnhof: auf der Suche nach dem nächsten Schuss Heroin, der ihn zumindest minutenweise möglichst weit wegbeamt aus dieser krachledernen Südtiroler Alpenwelt. Die steckt voller homophober Stimmungen und wird vor allem, so scheint es, einzig für die Millionenfach kommenden Touristen täglich wieder auf Vorderglanz gebracht, um denen eine möglichst urige wie grundsolidarische Berggemeinschaft vorzugaukeln.

Nur zur Ruhe kommen kann Mario, der gerne Joints raucht und auffällige Rüschenhemden trägt, in Hochwald an keiner Stelle. Denn niemand vom Pfarrer (Johannes Silberschneider), über die eigene Schwester (Claudia Kottal) bis zur örtlichen Weinproduzentenclanfrau (Katja Lechthaler), deren Filius Lenz (Noah Saavedra) mit Mario aufs Engste befreundet ist, lässt ihn wirklich in Ruhe. Und vor allem nie so sein, wie es der schüchterne, aber gutherzige junge Mann, der wie Klaus Nomi einst eine Lehre zum Konditor begonnen hatte und doch von der großen Avantgardebühne träumte, eigentlich haben möchte: Möglichst freigeistig, tolerant und unkonventionell!

Stattdessen krittelt quasi jede(r) im Südtiroler Bergdorf beständig an ihm herum. Niemand glaubt an Marios Traum, ein ebenso glamouröser wie Hüften schwingender John Travolta 2.0 werden zu können: das ist der Hauptkonflikt in diesem nicht nur in der Hauptrolle glänzend besetzten Langfilmdebüt der preisgekrönten Bozener Editorin (Mein bester Feind), Drehbuchautorin (M – Eine Stadt sucht einen Mörder) und Ehefrau des österreichischen Regie- und Literaturstars David Schalko, dem die benachbarte Alpenrepublik einige der größten kulturellen Glanz- und Schandtaten der jüngeren Geschichte (wie etwa die Serien Aufschneider und Altes Geld oder die Romane Schwere Knochen und Bad Regina) zu verdanken hat.

In gleichfalls präzisen wie eiskalten Einstellungen (Bildgestaltung: Martin Gschlacht und Jerzy Palacz), die direkte Verzweiflungsblicke des Hauptdarstellers in die Kameralinse wie in Zulawskis Nachtblende bewusst zulassen, und ebenso einprägsamen wie melancholisch-trockenen Dialogen („Ich will weg, Papa.“ – „Na ja, wer will das nicht?“ – „Ich wollt, als ich jung war, nach Mexiko auswandern. Ist nix geworden“) erzählt die 1967 geborene Südtirolerin in ihrem impulsiven Langfilmdebüt eine regelrechte Tour de Force zwischen Heimatrauschen und Fernwehsüchten, alpinen Kitschwelten und Südtiroler Traditionsbewusstsein, lokaler Scheinheiligkeit wie juvenilen Eskapismuswünschen.

Als sich Marion und Lenz heimlich in einer LGBTQ-Bar in Rom vergnügen, passiert das Unvorstellbare: Islamistische Terrortrupps stürmen urplötzlich das queere Tanzlokal und ermorden in einem wahren Blutrausch sämtliche Gäste. Bis aus Mario und Lenz’ italienischen Agenten (Marco Di Sapia), die das offen fundamentalistisch motivierte Massaker wie durch ein Wunder überleben. Während der eine Traumatisierte in der italienischen Hauptstadt bleiben kann, bleibt dem anderen nur die Rückkehr ins eh schon verhasste Heimatdorf, wo Mario nun noch mehr Argwohn entgegenschlägt: „Und wegen nix ischd der Lenz dod? Warum bischt du no da?“, schmettert ihm Lenz’ giftige Mutter Lamberta in einer der gelungensten Szenen entgegen.

Das sitzt – und treibt den fortan noch zielloser durchs Leben treibenden Mario, der selbstverständlich schwer traumatisiert ist, aber keine wirklichen Ansprechpartner mehr um sich hat, geradewegs in die Hände eines sich nach außen besonders liberal gebenden Imams (Kidr Khodr Ramadan), der regelmäßig junge Muslime um sich schart. Als Mario zum Schrecken der rassistischen Dorfbevölkerung („Scheißmoslems“) bald darauf auch noch selbst traditionelle Gebetskleidung anlegt und weiter mit der eigenen Familie bricht scheinen endgültig alle Wege zurück verbarrikadiert zu sein...und das Finale furioso steht in den Nebelschwaden unmittelbar bevor.

Evi Romens Hochwald ist beklemmend dicht inszeniertes, atmosphärisch aufgeladenes, überzeugend gespieltes und nicht zuletzt exzellent fotografiertes Neo-Heimatkino allererster Güte. Von dieser gestalterischen Klasse kann der bayerische oder schweizerische Heimatfilm dagegen nur träumen. Felix Austria!

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/hochwald-2020