Je suis Karl (2021)

Mitten in Europa

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

"Je suis Karl" beginnt durchaus vielversprechend: Ein Paar hat sich auf den Weg gemacht, den Geflüchteten Yusuf über die Grenze nach Deutschland zu schmuggeln. Kennengelernt haben sie ihn in Griechenland, sich mit ihm angefreundet, nun ist er in Budapest. Tatsächlich gelingt Inès (Mélanie Fouché) und Alex (Milan Peschel) ihr Vorhaben, sie passieren die Grenzkontrolle mühelos.

Danach – es wird einige Zeit später sein – ist ihre Tochter Maxi (Luna Wedler) in Paris mit ihrer Großmutter zu sehen. Sie verabschieden sich, Maxi kehrt nach Berlin zu ihren Eltern und ihren jüngeren Brüdern zurück. Eine durchaus glückliche Familie in einem Mehrfamilienhaus in Berlin, die Mutter Französin, der Vater wohl aus Deutschland. Sie sind aufgeklärt, engagiert, politisch eher links. Doch dann explodiert in ihrem Wohnhaus eine Bombe – nur Alex und Maxi überleben. 

Mit diesen Ereignissen kommt ein erster Moment voller überladener fernsehtauglicher Melodramatik: Alex ist auf dem Weg zu seinem Auto, als die Bombe explodiert. Er liegt auf der Straße und nimmt einen toten schwarzen Vogel in die Hand. Auf diese Weise nun wird ein Symbol für Alex‘ Schock und Trauer etabliert, das später noch einmal aufgegriffen wird. 

Maxi und Alex versuchen nun, mit dieser Tat zurechtzukommen: Alex verkriecht sich völlig in sich, glaubt, seine Söhne zu hören; Maxi ist weitgehend auf sich selbst gestellt. Doch dann trifft sie Karl (Jannies Niewoehner). Dass er sie anspricht, ist schon verdächtig. Dann lädt er sie zu einem Studierendenkongress nach Prag ein, von der Gruppe „Re/Generation“, zu der er gehört. Sie wollen dort reden über das Leben und die Zukunft, über das, was Angst macht. Maxi fühlt sich alleine, sie hat Angst – und Karl erscheint nett. Ein Ausweg. Sie ist interessiert. Dann folgt ein Schnitt mit einer anderen Handlung und völlig unnötigen Information: Karl war es, der die Bombe gelegt hat. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, ihn dunkel gefärbt und zufällig das Haus ausgesucht. Das einzige Ziel war, Deutschland zu destabilisieren, eine Stimmung zu erzeugen, in der Geflüchtete gehasst und nicht mehr aufgenommen werden. Diese Information zeigt, zu was Karl bereit ist, spielt im weiteren Verlauf dramaturgisch aber keine Rolle: Maxi wird es nicht entdecken, Karl wird für die Tat nicht zur Verantwortung gezogen. Und warum spielt es eine Rolle, wer die Bombe gelegt hat? 

Für den weiteren Verlauf dieses Films jedenfalls nicht: Durch Karl kommt Maxi in Berührung mit einer extrem rechten europäischen Bewegung. Anfangs ist sie skeptisch, aber sie fühlt sich wohl in Karls Nähe und trifft auf Verständnis für ihre Angst. Sehr gut ist in Je suis Karl eingefangen, wie rechte Netzwerke mittlerweile arbeiten. Es sind eben keine glatzköpfigen jungen Männer mit Bomberjacke und Springerstiefel mehr, sondern junge Männer und Frauen, hip gekleidet mit gefärbten Haaren und in sozialen Netzwerken aktiv. Sie haben eine eigene Musik, eigene Kleidung und sind sorgfältig darauf bedacht, sich zumindest öffentlich vom Faschismus abzugrenzen. Und sie agieren europäisch.

Das ist das wichtige Thema dieses Films, das er ernsthaft angeht aber letztlich zu simpel abarbeitet – und der Hauptgrund liegt an der Konstruktion des gesamten Films: Nicht jede:r, der sich dort aufgenommen fühlt, hat solch ein dramatisches Erlebnis hinter sich. Dazu kommt nun noch, dass sich Maxi in Karl verliebt und das wird dann ein zusätzlicher Motor für sie. Als könnte eine junge Frau sich nicht aus völlig eigenem Antrieb dieser Gesinnung anschließen, nein, sie muss dann am Ende auch von ihrem Vater gerettet werden. Eine eigene Erkenntnis wird ihr kaum zugestanden, dabei hätten ihr zumindest die Ereignisse am Schluss von alleine die Augen öffnen können. Aber schon vorher muss sie sich sehr viel Mühe gegeben haben, bestimmte Dinge nicht wahrzunehmen: dass alle Anwesenden weiß sind, dass Mutterschaft als höchste weibliche Daseinsform gesehen wird sind nur zwei Beispiele. 

Das ist das Seltsame an diesem 126 Minuten langen Film, der irgendwie Thriller, Romanze und Drama sein will: Immer wieder wirkt es, als seien zu vielen Ideen und Einwände eingebaut worden, anstatt eine klare Story zu verfolgen. Warum nicht der Mut, die Urheber der Tat offen zu lassen? Warum wird am Ende Yussuf eine kleine Rolle zugedacht, die fast pflichtschuldig wirkt? Vielleicht hätte dieser Film eher als Serie funktioniert, in der alle diese verschiedenen Figuren und Stränge mehr Zeit bekommen. So aber verliert man trotz der guten schauspielerischen Leistung nach und nach das Interesse. Und das ist schade, denn er hat ein wichtiges Thema und ist offensichtlich gut gemeint. Mehr aber auch nicht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/je-suis-karl-2021