Alles ist Eins. Außer der 0. (2020)

Den „virtuellen Dreck“ abschminken 

Eine Filmkritik von Falk Straub

Ende des Jahres wäre Herwart Holland-Moritz, besser bekannt als Wau Holland beziehungsweise Dr. Wau, 70 Jahre alt geworden. Pünktlich zum runden Geburtstag kommt ein Dokumentarfilm in die Kinos, der an den viel zu früh verstorbenen Computeraktivisten erinnert und nebenbei die Geschichte des Chaos Computer Clubs nachzeichnet, der 2021 ebenfalls ein Jubiläum feiert. Eine Liebeserklärung an 40 Jahre deutsche Hackerszene.

Der Chaos Computer Club (CCC), am 12. September 1981 informell gegründet, trägt das Durcheinander bereits im Namen. Und auch in Klaus Maecks und Tanja Schwerdorfs Dokumentarfilm geht einiges durcheinander. Dass der Zusammenschluss von Hackern, der bis heute in Hamburg sitzt, beispielsweise in den West-Berliner Redaktionsräumen der taz am Tisch der Kommune 1 ins Leben gerufen wurde, erfährt das Kinopublikum reichlich spät. An einem chronologischen Abspulen der Fakten ist das Regieduo nicht interessiert. Es geht ihnen um die großen Zusammenhänge. Fürs Publikum ist das ein Segen.

Nichts ist langweiliger als ein Dokumentarfilm, der das Leben eines Menschen von der Wiege bis zur Bahre nacherzählt. Wau Hollands Geburt, Kindheit und Jugend spielen bei Maeck und Schwerdorf zum Glück kaum eine Rolle. Erst eine halbe Stunde vor Schluss werden sie in aller Kürze abgehandelt, um mögliche Parallelen seines Pfadfindertums zu seinem Hackerethos aufzuzeigen. Der Rest ist eine rasante Bildercollage aus Archivmaterial, die nur auf den ersten Blick chaotisch erscheint. 

Wie beim Hacken selbst hat auch alles in diesem Film System und wird zugleich vom "Spieltrieb des bastelnden und grübelnden Forschers" (Albert Einstein) befeuert. Eine ganz erstaunliche Found-Footage-Montage haben Maeck und Schwerdorf hier scheinbar spielerisch zusammengebastelt – informativ, abwechslungsreich und voll anarchischen Humors, wie ihn Wau Holland & Co. bei ihren Aktionen an den Tag zu legen pflegten.

Der Auftakt könnte einem Agententhriller entnommen sein. Peter Glaser, Schriftsteller, Journalist und ehemaliger Chefredakteur der CCC-Zeitschrift Datenschleuder, liegt in einem Ledersessel. Sein Gesicht ist der Kamera abgewandt, sein Blick auf eine Wand aus zwölf Monitoren gerichtet. Mit der linken Hand streichelt er eine Katze, mit der rechten bedient er ein Kontrollpult. Und aus dem Off erzählt er die Geschichte des CCC und die Wau Hollands und seiner Mitstreiter und Nachfolger nach, zu denen neben ihm selbst Charakterköpfe wie Steffen Wernéry, Andy Müller-Maguhn oder Linus Neumann zählen.

Die Aktionen des Clubs machten mal bundesweit, mal weltweit Schlagzeilen. Etwa als der CCC den von der Bundespost angebotenen und als sicher geltenden Bildschirmtext (BTX), einen interaktiven Onlinedienst, hackte und von der Hamburger Sparkasse 135.000 DM auf das eigene Konto transferierte. Oder als Karl Koch vom Westen erspähte Daten an den sowjetischen Geheimdienst KGB verkaufte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Szene bereits in gute und böse Hacker gespalten. Letztere haben mit der selbstauferlegten Ethik der Szene nichts mehr am Hut. Hans-Christian Schmid griff Kochs Schicksal in seinem Film 23 (1998) auf und strickte es fiktiv weiter. Szenen aus Schmids Film kommen auch in Maecks und Schwerdorfs Dokumentarfilm vor. Denn in diesem wilden Bilderstrom kommentieren sich Archivaufnahmen und Zitate aus der Popkultur gegenseitig – ganz im Sinne von Wau Hollands Credo, dass in einer Informationsgesellschaft alle Informationen weltweit und ungehindert zugänglich sein sollten.

Dass dem Regieduo so viele tolle Aufnahmen zur Verfügung standen, ist Maecks Beziehungen zu verdanken. Über den Sponti-Buchladen "Schwarzmarkt", den der 1954 geborene Maeck gemeinsam mit anderen in Hamburg betrieb, kam er früh mit den CCC-Mitgliedern, die dort ihre Treffen abhielten, in Berührung. Die Verwendung des Archivmaterials hat aber noch einen ganz anderen als einen persönlichen und pragmatischen Zweck. Durch dessen äußerst kluge Montage ergibt sich mit zunehmender Laufzeit eine kleine Geschichte des Informationszeitalters und der (west-)deutschen Medienlandschaft. Ein von Punkmusik getragener Ritt durch die Zeit: von ersten Heimcomputern über die Erfindung des Internets bis zu Social Media. Synchron zu den Jahrzehnten, über die berichtet wird, passt sich auch die Optik des Films an. 

Gegen Ende verliert er allerdings etwas an Schwung. Das mag am Inhalt liegen, weil es nun um die Gegenwart und die Zukunft von Informationen und Datenschutz geht. Bekannte Gesichter wie Julian Assange, Edward Snowden und Chelsea Manning werden als Waus geistige Erben präsentiert und Tech-Giganten wie Mark Zuckerberg als Kehrseite der Medaille. Nun wird es ernst(er). Der Anarcho-Charme bleibt weitestgehend auf der Strecke.

Dass Wau Holland ein Visionär war, ist unbestritten. Dass er so visionär wie Albert Einstein war, wie es der Auftakt dieses Films nahelegt, darf man getrost als augenzwinkernde Provokation des Regieduos abtun. Wie visionär er in Bezug auf unsere Gegenwart war, erstaunt. So viel Zeit dieser Mann auch vor dem Rechner und in einer Welt voller Einsen und Nullen verbrachte, der Bedeutung zwischenmenschlicher Kontakte war er sich jederzeit bewusst. Ihm kam es immer auch auf den direkten Austausch, auf den unmittelbaren Kontakt an. Den ganzen "virtuellen Dreck" hingegen, den sollten sich einige abschminken, hat Wau Holland gesagt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/alles-ist-eins-ausser-der-0-2020