Children (2020)

Ideologisches Spielfeld

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Dima war im Gefängnis. In einem israelischen. Nun, nach ihrer Freilassung, steht sie einsam am Grenzposten zum Westjordanland, ihre Mutter läuft ihr mit Tränen in den Augen entgegen, begleitet von etlichen Reportern. Die Familie ist wieder vereint – und von Kameras umringt. Es wird gefilmt und fotografiert, alles konzentriert sich nur auf Dima. Dass die junge Palästinenserin so sehr im Fokus steht, hat eine einfach Ursache: Dima ist gerade einmal zwölf Jahre alt. Eine von mehr als 400 Minderjährigen in israelischer Gefangenschaft.

Wie es so weit kam, dass sie inhaftiert wurde, ist – wie die Lage in dieser Region im Allgemeinen – eine komplizierte Angelegenheit. Auf einem Überwachungsvideo, das später zu sehen ist, liegt Dima gefesselt am Boden, neben ihr ein Messer. Ein Soldat fragt, ob sie hierher gekommen sei, um Juden zu töten. „Ja“, schleudert sie ihm ohne Zögern entgegen. Später spricht Dima nochmals über diese Situation: Sie habe gar kein Messer dabeigehabt, es sei dort drapiert worden. Bejaht habe sie die Frage nur, weil die Soldaten nach einem Geständnis nicht mehr willkürlich mit Gefangenen umgehen könnten.

Für die Hintergründe interessiert sich jetzt jedoch niemand mehr. Sondern ausschließlich für das, was danach geschah. Ob sie geschlagen und gefoltert wurde, wird Dima von Reportern, Familie und Freunden immer wieder gefragt. Natürlich sei die Haft unangenehm gewesen, gefoltert aber sei sie nie worden, wiederholt sie stets. Ihr Umfeld jedoch scheint nur das zu hören, was es hören will. Das, was der Aufrechterhaltung des gemeinsamen Feindbildes dient – dem der „Zionisten“, die in Hebron, Dimas Heimatstadt und zentraler Schauplatz von Children, zunehmend mehr Immobilien erwerben und eingesessene Familien verdrängen. Dass es dabei immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, ist kein neues Phänomen. Dass immer mehr Kinder in diesen Konflikt eingebunden werden, hingegen schon.

Seit 2016 das politische und mediale Schlagwort von der sogenannten „Messer-Intifada“ aufkam, sind zunehmend palästinensische Jugendliche in den Fokus der israelischen Sicherheitskräfte geraten. Ob nun zu Recht oder nicht, darüber erlaubt sich der Dokumentarfilm Children kein Urteil. Regisseurin Ada Ushpiz (Hannah Ahrendt – Die Pflicht zum Ungehorsam) interessiert sich stattdessen dafür, wie die Minderjährigen auf beiden Seiten politisch instrumentalisiert werden: auf palästinensischer als Opfer, auf israelischer als potenzielle, unberechenbare Gewalttäter.  Stigmatisierungen, die ihnen mental wohl mindestens so sehr zusetzen, wie die regelmäßigen Schießereien auf den Straßen vor ihren Häusern. Children nun setzt sich in die Mitte dieses Spannungsfeldes und versucht, die Grautöne zwischen beiden Extremen auszuloten. Dabei macht der Film allem voran eines deutlich: Trotz allem sind seine Protagonist*innen nach wie vor Kinder.

Symptomatisch dafür etwa ist die Szene, in der Dima auf die elf Jahre alte (in Ermangelung eines besseren Wortes) Polit-Influencerin Janna trifft. Die steht bei Demonstrationen und gewaltsamen Auseinandersetzungen regelmäßig in der ersten Reihe, ruft Parolen, hält das Geschehen mit ihrem Smartphone fest und ist dadurch schon zu einer lokalen Berühmtheit geworden. Da sitzen beide Mädchen also in Dimas Zimmer, Janna fragt sie für einen V-Log über ihre Gefangenschaft aus. Die Interviewte schildert ihre Erfahrungen, verhaspelt sich – und beide brechen in kindliches Gelächter aus. Solche Momente, in denen die Fassaden bröckeln und die Menschen dahinter erkennbar werden, gibt es in Children etliche.

Weitere Protagonist*innen kommen innerhalb der zwei Stunden Laufzeit zu Wort. Die kleine Dareem etwa. In der Grundschule erzählt sie ihrer Lehrerin von Albträumen, die einen ganz realen Hintergrund haben und davon handeln, wie israelische Soldaten des nachts die Wohnung stürmen und ihren jugendlichen Bruder festnehmen. Als in der Klasse ein Rollenspiel durchgeführt wird, bei dem eine Hälfte eben jene Soldaten verkörpert und die andere zu Schlangen wird, die Dareem so sehr fürchtet, sucht sie jedoch Schutz bei den Sicherheitskräften. Kein Groll, keine Angst – im Gegensatz zum 16 Jahre alten Hazim. Der gerät regelmäßig mit den schwer bewaffneten Soldaten aneinander, die täglich an seinem Haus entlang patrouillieren. Eine politische Diskussion mit seinem Vater findet keinen Konsens: Im Gegensatz zu ihm will Hazim keine Zwei-Staaten-Lösung, sondern will nur „die Zionisten“ vertreiben.

Children schwankt durch dieses Wechselspiel der Protagonist*innen und ihrer Einstellungen kontinuierlich zwischen der Hoffnung auf eine neue Generation, die die alten Konflikte beilegt, und der traurigen Erkenntnis, dass diese neue Generation jene Konflikte noch weiter anfachen könnte. Niemals aber, und darin liegt seine große Stärke, begeht er den Fehler der lokalen Medien, die Kinder einzig auf ihre Rolle als leidtragende Opfer oder gewaltbereite Täter zu reduzieren. Ihr familiäres Umfeld, die Gängelungen durch die Soldaten, Auseinandersetzungen auf der Straße mit Gasgranaten, Gummi- und scharfen Geschossen, die Presse – all diese Einflussfaktoren leuchtet Children aus und verortet seine Akteur*innen in einem ideologischen Spannungsfeld, das nur Extreme kennt und den Mensch, das Kind ausblendet. Genau diese Kinder zeigt Children mit viel Ruhe und dennoch enormer emotionaler Wucht. Kinder, die es in der Hand haben, es besser zu machen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/children-2020