Die Magie der Träume (2020)

Heilende Vorstellungskraft

Eine Filmkritik von Falk Straub

In Kinderbüchern und -filmen führt der Weg in eine magische Welt meist durch ein Portal. Als Gegenstände des täglichen Gebrauchs getarnt, bleibt den Erwachsenen verborgen, was sich hinter Spiegeln, Türen oder im Kleiderschrank auftut. Im echten Leben führt bereits die eigene Vorstellungskraft in solche Welten. Die Fantasie des kindlichen Spiels beflügelt die Fantasie von Kinderbuchautoren, deren Geschichten wiederum die Kinderspiele beflügeln. Das ist auch bei Brenda Chapman so. Im ersten Realfilm der Animatorin und Zeichentrickregisseurin fließen gleich mehrere literarische Vorlagen einfallsreich ineinander.

Um sich in fremde Welten zu imaginieren, bedarf es wenig. Wenn die Geschwister David (Reece Yates), Peter (Jordan A. Nash) und Alice (Keira Chansa) hinter ihrem mitten in der Natur gelegenen Elternhaus durch den Wald toben, werden die Stöcke in ihrer Hand wahlweise zu Säbeln oder zu Pfeil und Bogen. Ein am Seeufer gekenterter Kahn wird zu einem Piratenschiff, ein Pfandleiher zum verrückten Hutmacher und eine wohlmeinende, aber Übel bringende Verwandte zur Herzkönigin. Der Fantasie scheinen keine Grenzen gesetzt. Bald schon ist noch mehr Einfallsreichtum gefragt.

Wie es in Märchen kommen muss, geht die Idylle jäh zu Ende. David verunglückt beim Spielen im See, worüber seine Mutter Rose (Angelina Jolie) lange Zeit nicht mehr glücklich wird. Vater Jack (David Oyelowo) drücken finanzielle Sorgen, die Peter und Alice auf eigene Faust lösen wollen, was dem Publikum einen Ausflug in die vollgestopften Gassen Londons beschert. Zwischen düsteren Spelunken und mysteriösen Kellergewölben tun sich familiäre Abgründe und geradezu Dickens'sche Charaktere auf. Die zwei großen literarischen Referenzpunkte sind aber Lewis Carrolls Alices Abenteuer im Wunderland und J. M. Barries Peter Pan.

Ähnlich elegant, wie das Zusammenspiel aus Montage und computergenerierten Effekten die Übergänge zwischen Realität und Fantasie kaschiert, verflicht Marissa Kate Goodhills Drehbuch literarische Bezüge zu etwas Neuem. Zunächst könnte man meinen, dass die Kinder in ihrem Spiel einfach nur Carrolls und Barries als Bettlektüre gehörte Geschichten aufgreifen. Doch zum Zeitpunkt der Filmhandlung scheinen die beiden Kinderbuchklassiker noch gar nicht geschrieben worden zu sein. Goodhills Story geht einen Schritt weiter. Peter und Alice dienen den Schriftstellern als Vorlagen für ihre Figuren. Oder gibt es die Bücher in dieser Welt gar nicht und sind Peter, Alice und ihre Abenteuer echt? Die Antwort darauf bleibt der Fantasie des Publikums überlassen.

Brenda Chapman, die unter anderem an den Drehbüchern der Disney-Klassiker Die Schöne und das Biest (1991) und Der König der Löwen (1994) mitschrieb und bei Der Prinz von Ägypten (1998) und Merida – Legende der Highlands (2012) Regie führte, macht daraus einen unaufgeregten Familienfilm voll kleiner magischer Momente. Und dennoch fehlt dieser ruhig erzählten Geschichte über Verlust, Trauer und die heilende Kraft der Imagination etwas. Das große Staunen bleibt aus. Die Bilder, mit der der Film die Fantasie der Geschwister illustriert, stehen stets ein wenig hinter dieser kindlichen Fantasie zurück. Die eigene Vorstellungskraft mag die Figuren am Ende trösten, zum Träumen bringt sie die Zusehenden nur bedingt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-magie-der-traeume-2020