The 355 (2022)

Derselbe Feind vereint

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Die Ursprungsidee für "The 355" stammte, so ist zu lesen, von einer der Hauptdarstellerinnen, die gleichzeitig auch als Produzentin des Projekts fungierte. Jessica Chastain trieb den Gedanken eines weiblich geprägten, actionhaltigen Spionagethrillers voran und konnte den Briten Simon Kinberg, der sie in X-Men: Dark Phoenix inszeniert hatte, als Regisseur für ihr Vorhaben gewinnen. Im Laufe der Zeit fand sich ein stattliches, divers aufgestelltes internationales Ensemble zusammen, um die auf der Leinwand zumeist von Männern beherrschte Welt der Geheimdienste gehörig durcheinanderzuwirbeln. Der fertige Film lebt spürbar vom Spieleifer Chastains und ihrer Mitstreiterinnen, und hat einige knackige Actioneinlagen zu bieten, wächst aber leider nicht wirklich über die Genrestandards hinaus.

Ganz im Sinne der ikonischen James-Bond-Reihe steht das von Kinberg und Theresa Rebeck ausgeheckte Drehbuch gleich zu Beginn unter dem Motto „Schauplatz wechsle dich“. Zum Einstieg geht es nach Kolumbien, wo der DNI-Agent Luis Rojas (Édgar Ramírez) bei einer bleihaltig-chaotischen Razzia auf dem Anwesen eines Kartellbosses einen Computerchip mit enormer Sprengkraft einsteckt. Drogen waren einmal der heißeste Scheiß. Heute hingegen ist es diese kleine technische Wunderwaffe, mit der man Ländern den Strom abdrehen oder Flugzeuge vom Himmel segeln lassen kann, nach der sich alle die Finger lecken.

Nächster Stopp ist das CIA-Hauptquartier in Langley, wo wir mit der schlagkräftigen Spionin Mace Brown (Jessica Chastain) Bekanntschaft machen. Nachdem der untergetauchte Luis ihrer Behörde den besagten, im weiteren Verlauf oft „Das Paket“ genannten Chip für drei Millionen Dollar angeboten hat, soll sie zusammen mit ihrem Kollegen und guten Freund Nick Fowler (Sebastian Stan) nach Paris reisen und den Austausch geräuschlos über die Bühne bringen.

Nick, der Mace offenbar schon lange anziehend findet, überrascht sie mit ihrer Tarnung als Ehepaar in den Flitterwochen und wagt noch vor dem Einsatz einen Annäherungsversuch, der die beiden tatsächlich im Bett landen lässt. Ein Schlenker, der eine emotional-dramatische Ebene einzieht, den es rückblickend aber keineswegs gebraucht hätte. Genauso gut hätte Mace an ihren anfänglichen Einwänden festhalten und der Film das Klischee der romantischen Verwicklungen unterlaufen können.

Die Stimmung saust kurz darauf in den Keller, da die Übergabe in einem Straßencafé von der als Kellnerin getarnten BND-Agentin Marie Schmidt (Diane Kruger) torpediert wird. Luis bleibt zunächst im Besitz des gefährlichen, MacGuffin-artigen Hightech-Spielzeugs, hinter dem neben den Geheimdiensten natürlich auch finstere Kräfte her sind. Die Hetzjagd nach dem Objekt der Begierde führt Mace, Marie, die Technikexpertin Khadijah (Lupita Nyong’o) und die für den kolumbianischen Nachrichtendienst arbeitende Psychologin Graciela (Penélope Cruz) irgendwann zusammen. Die Szene, in der die vier Frauen recht abrupt beschließen, gemeinsame Sache zu machen, wirkt allerdings ein bisschen unglaubwürdig. Dass Marie, die als niemandem Vertrauen schenkende Einzelgängerin eingeführt wird, wenn auch zähneknirschend, in den Vorschlag einwilligt, riecht ein wenig nach Bequemlichkeit auf Seiten des Drehbuchgespanns.

Sonderlich ausgefeilte Profile bleiben den Protagonistinnen verwehrt. Dafür stimmt aber die Dynamik im Zusammenspiel der Hauptdarstellerinnen, die sichtlich Spaß daran haben, sich in den größtenteils kraftvoll inszenierten Kampf- und Fluchtsequenzen auszuagieren. Umgeben von drei Oscar-Gewinnerinnen, ragt ausgerechnet die als Darstellerin noch immer unterschätzte Diane Kruger hervor. Mit wie viel Verve und überzeugender Badass-Attitüde sie sich in ihre Rolle wirft, ist allemal beachtenswert. Vergessen könnte man da fast, dass ihrer Figur ein langweiliger Vaterkomplex angetackert wird. Einen etwas undankbaren Part bekleidet indes Penélope Cruz, für die Kinberg und seine Koautorin lange Zeit nichts Handfestes zu tun haben. Liefert das in seinen Dialogen manchmal die stupide Skript anfangs noch eine halbwegs annehmbare Erklärung, warum sie sich an der Suche nach dem Chip beteiligt, gehen ab einem gewissen Punkt die Argumente für ihre Anwesenheit aus.

Gerade weil es so wenige zupackende Agentinnen auf der Leinwand zu sehen gibt, wäre es schön gewesen, wenn der Film seine Heldinnen etwas nuancierter gezeichnet und seine Story stärker vom arg konventionelle Superwaffe-bedroht-die-Welt-Muster abgehoben hätte. Regelmäßig schlägt die Handlung Haken. Eine zentrale Wendung ist aber seltsam offensichtlich. Und zudem wird die mysteriöse Chinesin Lin Mi Sheng (Bingbing Fan) auf nicht sehr elegante Weise in das Geschehen eingebunden. So sehr man sich darüber freuen muss, dass The 355 der Unterrepräsentation von Frauen im Agentengenre entgegenwirkt, so unnötig ist der Holzhammer, den die Macher*innen mehrfach kreisen lassen. Den Verweis auf James Bond braucht es ebenso wenig wie einige explizit ausformulierte Selbstermächtigungsversicherungen. Plump mutet auch das Pauschalurteil an, dass am Ende in einem semipackenden Nachklapp in den Raum geworfen wird: Die Arbeit von Spionageorganisationen kritisch zu hinterfragen, ist richtig und wichtig. Alle Geheimdienste als korrupt und unfähig zu erklären, zeugt allerdings von einer doch sehr schlichten Weltsicht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/the-355-2022