Vor mir der Süden (2020)

Küstenfahrt im Geiste Pasolinis

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Zwei Jahre bevor Pier Paolo Pasolini seinen ersten Film drehte, fuhr er 1959 die italienische Küste beinahe in voller Länge ab. Die Reise im Fiat Millecento, die in mehreren Etappen von Ventimiglia im Nordwesten bis hinunter an die südlichste Spitze Siziliens und auf der Ostseite wieder hinauf bis hinter Triest führen sollte, absolvierte er für eine Mailänder Zeitschrift. Der Auftrag lautete, die neue Urlaubs- und Tourismuskultur zu beschreiben. Der Schriftsteller und Dichter Pasolini fand nicht nur fröhliche Badende und flanierende Jugendliche, sondern lernte auch das eigene Land besser kennen. Mit kritischem Blick registrierte der kommunistische Patriot, wie sich im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs die moderne, kulturell verflachte Konsumgesellschaft herausbildete. Ebenso beschäftigte ihn die Armut und Rückständigkeit des Südens. 60 Jahre später ist nun der deutsche Regisseur Pepe Danquart ("Am Limit") die Strecke für seinen Dokumentarfilm nachgefahren, um zu sehen, was aus Pasolinis Italien geworden ist. 

Noch bevor das eigentliche Roadmovie beginnt, lässt Danquart drei nicht mehr junge Italienerinnen am Strand von Jesolo zu Wort kommen. Sie hätten hier früher Deutsch gelernt, sagen sie, weil sie sich verständigen wollten. Schon Pasolini hatte auf seiner Reise, allerdings sehr zu seinem Missfallen, die Entstehung neuer Touristenorte entlang der Adria registriert, in die deutsche Erholungssuchende in Massen einfielen. Und die Deutschen sind immer noch sehr präsent an der italienischen Küste, wie Danquart mancherorts erfährt. Ältere Semester mit bequemem Schuhwerk spazieren auf Capri in Kolonne durch die Straßen, ein Einheimischer klagt über die Besuchermassen. Ein alter Fischer erzählt wiederum, dass viele seiner früheren Berufskollegen heute als Bootsverleiher ihr Geld verdienen und die Fremden zur Blauen Grotte fahren. 

Danquart, der Pasolini als Vorbild seines ganzen beruflichen Lebens als Filmemacher bezeichnet, findet unterwegs etliche Gesprächspartner*innen, die den 1975 verstorbenen italienischen Regisseur immer noch verehren. Manche kannten ihn sogar persönlich, wie der Mann, der als Junge auf einem Foto mit ihm 1951 verewigt worden war und mit ihm die Liebe zum Fußball teilte. Nun sagt er ein Gedicht von Pasolini auf. Ein Hafenarbeiter in Genua erzählt, dass ihn das Interesse für Pasolinis Ideen zum Lesen brachte. Wie er lobt auch die Schauspielerin Adriana Asti, die den Dichter und Filmemacher kannte, seinen Mut, den Mund aufzumachen, Stellung zu beziehen. Pasolini habe die Gleichgültigkeit gehasst. So wird diese Reise, stilvoll in einem Fiat Millecento zurückgelegt, zur Hommage an den großen Künstler. Einige Male kommt er in Archivaufnahmen hier auch selbst vor, etwa wenn er beklagt, wie die Konsumgesellschaft historisch gewachsene Eigenheiten zerstört. 

Zum Charakter einer Hommage gehört auch der von Ulrich Tukur aus dem Off gesprochene Text, der Pasolinis Reisereportagen von 1959 entnommen ist. Diese Berichte sind in Buchform erschienen, mit dem Titel Die lange Straße aus Sand. Manchmal experimentiert Danquart auch mit Super-8-Filmchen, die ein wenig den Geist der Vergangenheit optisch heraufbeschwören sollen, bevor wieder die moderne Kamera von Thomas Eirich-Schneider übernimmt. Und ein paar Mal forscht die Kamera auch in Gesichtern von Menschen, wie das Pasolini in seinen Filmen gerne tat. Senioren in Matera, Fußball spielende Jungen in Neapel werden für ein Gruppenbild aufgestellt. Der Abstecher nach Matera weicht von Pasolinis Reiseroute ab und ist dem Umstand geschuldet, dass der Filmemacher dem Ort mit seinem Das 1. Evangelium – Matthäus ein Denkmal setzte. 

Danquart, der bescheiden im Off bleibt, registriert zuweilen fast noch kritischer als Pasolini diverse Verfallserscheinungen, wirtschaftliche und kulturelle. Die Plage des Massentourismus in Venedig, die dort ein Einwohner in drastischen Worten schildert, symbolisiert sehr treffend ein Ozeanriese, der sich hinter den Säulen eines Palasts bedrohlich auftürmt. Am eindrucksvollsten sind jedoch die Erkundungen des Südens, der hier oft trostlos wirkt. Hinter Neapel meint man einmal die gnadenlose Hitze zu spüren vor den verfallenden Gebäuden, über den Brachen und leeren Stränden. Danquart nimmt Industrieruinen ins Visier und lässt Einheimische über Arbeitslosigkeit und das Aussterben der Dörfer sprechen.  

Ein wichtiges aktuelles Thema ist bei Danquart die afrikanische Migration. Junge Geflüchtete erzählen von ihrer Odyssee, ihrem Alltag in einem selbst errichteten Zeltlager, ihren Hoffnungen. Ein Immigrant hütet Schafe, in Palermo ist ein anderer stolz auf seinen kleinen Schneiderladen, der ihm ein Auskommen sichert. Öfter klingt in diesem Film so etwas wie eine Hoffnung an, dass afrikanische Migranten doch dem verlassenen Süden zu einem neuen Aufschwung verhelfen könnten – ein Gedanke, den auch neulich der Dokumentarfilm A Black Jesus von Luca Lucchesi vertrat.

Was aber auffallend fehlt in diesem Reisebericht, ist die quirlige Lebensfreude, die Pasolini ja oft in den Küstenorten beobachtete. Mancherorts scheint gerade keine Badesaison zu sein, Strände wirken verwaist. Ohne die Szenen des bunten, lebhaften Treibens aber bekommen die tristen, melancholischen Impressionen ein deutliches Übergewicht. Manchmal fällt auch auf, wie schnell Danquart – Pasolini konnte das allerdings auch – Orte abhakt und dass an einzelnen Punkten architektonische, landschaftliche Schönheit weniger als im Original gewürdigt wird. So hätte dieser Film mit seinem sehr interessanten Ansatz, sowohl Italien zu erkunden als auch geistige Einflüsse Pasolinis freizulegen, ruhig noch prägnanter und kontrastreicher gestaltet sein dürfen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/vor-mir-der-sueden-2020