Das Damengambit (Miniserie, 2020)

Die Welt in 64 Quadraten

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Schach gilt als das „Spiel der Könige“ - und doch ist die Dame die mächtigste Figur auf dem Feld. Der Name dieser Königin: Elizabeth Harmon. So zumindest in der siebenteiligen Netflix-Serie „Das Damengambit“, die ein heißer Kandidat bei den Emmys 2021 sein dürfte. Die von Scott Frank (Drehbücher zu „Minority Report“, „Logan“ und „Godless“) konzipierte, geschriebene und inszenierte Miniserie besticht nicht nur durch das großartige Schauspiel von Anya Taylor-Joy („The Witch“) sowie die Zeichnung und Entwicklung ihres Charakters, sondern durch eine simple Tatsache: Selten, wenn überhaupt, war Schach spannender.

Dass es Elizabeth Harmon zu Ruhm bringen wird, daraus macht Das Damengambit keinen Hehl: Schon in der allerersten Sequenz ist die junge Frau am vorläufigen Höhepunkt ihrer Schach-Karriere angelangt - trotz massiver Alkoholprobleme. Der Concierge eines Pariser Hotels klingelt sie mitten am Tag wach, panisch stürzt sie ins Bad, kämmt ihre Haare und nimmt noch schnell einen Schluck aus dem Flachmann. Dann runter in die Lobby, wo schon die Reporter und ihr Kontrahent warten: der sowjetische Großmeister Borgow (Marcin Dorocinski), der sich im Laufe des Plots zu Elizabeths Nemesis entwickeln wird. Beide blicken sich tief in die Augen, die Partie beginnt – und die Rückblende setzt ein.

Elizabeths Geschichte wird nun von Beginn an erzählt. Als Neunjährige (in diesem Alter noch gespielt von Chloe Pirrie) verliert sie 1957 ihre alleinerziehende Mutter bei einem Unfall und wird daraufhin in einem katholischen Waisenhaus untergebracht. Dort lernt sie zwei Dinge: sich auf sich selbst (und höchstens noch ihre Bettnachbarin Jolene, gespielt von Moses Ingram) zu verlassen – und Schach. Im Keller bringt ihr der schroffe Hauswart (Bill Camp) das Spiel bei, und schon bald zeigt sich, dass Elizabeth eine herausragende Begabung im Umgang mit dieser Welt aus 64 Quadraten hat. Nach wenigen Partien sieht der Hauswart kein Land mehr, auch der Vorsitzende des örtlichen Schachclubs ist hoffnungslos unterlegen.

Noch etwas prägt Elizabeths Entwicklung zu dieser Zeit: die medikamentöse Behandlung in dem Waisenhaus. Die ist Fluch und Segen zugleich: Die tägliche Dosis Beruhigungsmittel hilft ihr, allabendlich Partien im Kopf durchzuspielen, visualisiert durch ein riesiges, imaginäres Schachbrett an der Decke des Schlafsaals. Sie wird immer und immer besser – und zugleich bereits in jungen Jahren abhängig, vom Schach und von den Pillen. Die Drogen umgeben sie auch, als sie mit 13 Jahren adoptiert wird: Der neue Vater nimmt alsbald Reißaus, die neue Mutter fängt daraufhin (wieder) mit dem Trinken an. Elizabeth, nach wie vor völlig in Schach vernarrt, schottet sich ab, nimmt an einem örtlichen Turnier teil – und stampft dort ihre Gegner in den Boden. Als ihre Adoptivmutter auf diese Begabung, die sie zuvor als seltsames, unweibliches Hobby abgetan hat, aufmerksam wird, will sie Elizabeth fördern und managen. So beginnt der Aufstieg der Schachkönigin Elizabeth Harmon.

Das Damengambit holt zu Beginn weit aus und viel Luft, nutzt diese über zwei der sieben Folgen andauernde Exposition allerdings, um seiner Protagonistin eine psychologische Grundierung zu verleihen, die ihre spätere charakterliche Entwicklung durchweg nachvollziehbar macht. Dass sich Elizabeth gefühlskalt und abweisend gibt, sich nicht in das gesellschaftlich vorgeschriebene Bild junger Frauen Anfang der 1960er einfügen will und kann, später eine schwere Abhängigkeit von Alkohol und Beruhigungsmitteln entwickelt und schnellem Sex zwar nicht abgeneigt ist, dafür aber keine stabile Beziehung aufbauen kann – all das wird hier bereits angelegt und angedeutet. Im Mittelpunkt steht eine ambivalente Figur, die alle in ihrem Umfeld überflügelt, aber keinen emotionalen Anker findet. Den gibt ihr nur das Schachbrett, diese, wie Elizabeth einmal einer Reporterin erzählt, kleine, in sich geschlossene Welt mit klaren Regeln, in der sie und nur sie allein die Kontrolle hat. Und in der sie ihre Gegner mit aller Macht attackiert.

Das alles mag zunächst klischeebehaftet klingen, und in der Tat erzählt Das Damengambit im Kern ein klassische (Sportfilm-)Erfolgsgeschichte, in deren Verlauf die Hauptfigur mit persönlichen Problemen zu kämpfen hat und das Wort „verlieren“ nicht kennt, weshalb jede der seltenen Niederlagen umso mehr schmerzt. Doch Schach ist eben kein physischer Sport – und bietet insofern ein völlig anderes Umfeld als etwa Foot- oder Baseball. Kein toxisches, sondern ein achtungsvolles, in dem der anfängliche Underdog Elizabeth zunächst noch belächelt, nach dem ersten Turniersieg jedoch euphorisch beklatscht wird – auch von ihrem vermeintlich arroganten Kontrahenten.

Als weibliche Schachspielerin ist und bleibt sie eine Ausnahmeerscheinung, und so ist es aus Publikumsperspektive umso befriedigender, wenn sie durch die männlich dominierte Spielerschaft pflügt, dafür aber statt Hass ehrliche Respektsbekundungen erhält. Der Sexismus- und Gender-Diskurs ist da, schwelt jedoch nur im Hintergrund und nimmt, auch wenn man das erwarten könnte, nur eine untergeordnete Rolle in den sieben Folgen ein. Gleiches gilt für den später immer mehr in den Vordergrund rückenden ideologischen Konflikt zwischen West und Ost, USA und UdSSR, wenn Elizabeth gegen die weltweit dominierenden Spieler aus der Sowjetunion, an der Spitze Borgow, antritt. Auf dem Schachbrett gilt Weiß gegen Schwarz, außerhalb dessen dominieren Grautöne.

Das Damengambit ist und bliebt trotz dieser gesellschaftlich-politischen Ansätze deshalb ein charakterfokussiertes Porträt, und dank des herausragenden Talents von Anya-Taylor Joy sowie der feinfühligen Entwicklung ihrer Figur ist der gezeichnete Werdegang einer, den man über die knapp sieben Stunden Laufzeit mit all seinen Höhe- und Tiefpunkten mit großer Faszination verfolgt. Begünstigt wird der Sehgenuss nicht zuletzt durch die stilsichere Inszenierung, die zeitgenössischen Kulissen in tristen, entsättigten Aufnahmen eingefangen und dabei ruhige, weitwinklige Bilder bevorzugend, in dramatischen Momenten (sprich: den Spielen), aber in schnelle, effektive Schnittfolgen wechselnd. Allerdings – diesen Kritikpunkt muss sich diese sonst tadellose Serie zumindest aus der Perspektive von Schachspieler*innen gefallen lassen – hätte der visuelle Fokus dabei weniger auf den Gesichtern als auf den Brettern liegen sollen. Keine Partie wird in Gänze gezeigt, die Spiele sind im Grunde psychologische Prozesse, die in Schlagwörtern wie Angriff, Verteidigung, Opfer oder Zurückweichen zusammengerafft werden. Konkrete Zugfolgen oder ausformulierte, nachvollziehbare Strategien sind Raritäten.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-damengambit-miniserie-2020