Und morgen die ganze Welt (2020)

Auf der Suche nach dem richtigen Leben

Eine Filmkritik von Arabella Wintermayr

Schon der Anfang ist eine Ansage: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, zitiert eine Einblendung. Auf den ersten Absatz des Artikel 20 des Grundgesetzes folgen Bilder einer jungen Frau, die mit einem Jagdgewehr im Anschlag benommen über die Leinwand irrt. Dazu der vierte Absatz des gleichen Artikels: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Gegen wen sich besagter Widerstand richtet, wird gleich nach dem ersten Szenenwechsel in die Vergangenheit klar: Dieselbe Frau, Luisa (Mala Emde), trifft sich in Mannheim mit Freund*innen zum Containern – die Innenstadt ist mit blauen, hassschürenden Plakaten vollgekleistert. Von wem der Widerstand kommen soll, ist ebenfalls schnell geklärt: Mit Lebensmitteln bepackt geht es zurück ins „P81“, das unwillkürlich an die Liebig 34 und ähnliche Initiativen erinnert.

Das Hausbesetzer*innenprojekt wird als gut organisierte Kommandozentrale der örtlichen Antifa präsentiert: Ein Grüppchen bereitet Transparente vor, ein weiteres übt Kampftechniken, ein drittes lauscht einem PowerPoint-Vortrag über die „Prominenz“ der rechten Szene, die man auf der nächsten Demonstration erwartet. Luisa, die noch bei ihren Eltern wohnt, studiert im ersten Semester Jura und möchte sich wie Freundin Batte (Luisa-Céline Gaffron) dem Projekt anschließen. Die Begeisterung über den Zuwachs, der sich womöglich nur ein wenig als Aktivistin versuchen möchte oder eine Auszeit vom Dasein als verwöhntes Töchterchen des Landadels braucht, hält sich in Grenzen. 

Dass Luisas Engagement ein aufrichtiges ist, macht Und morgen die ganze Welt allerdings unmissverständlich klar. Woher genau ihre Motivation kommt, sich als finanziell gut gestellte junge Frau mit Aussicht auf ein privilegiertes Leben antifaschistisch einzusetzen, wird nicht ausdrücklich untersucht. Was man als Lücke beklagen könnte, ist in Wahrheit aber gar keine: Die atmosphärische Gemengelage, die Regisseurin Julia von Heinz (Ich bin dann mal weg) zusammen mit Kamerafrau Daniela Knapp ganz ohne inszenatorische Kunstgriffe erzeugt, wirkt zeitweise dokumentarisch. Sie genügt, um die diffuse Wut im Bauch der Protagonistin nachvollziehbar zu machen.

Sich einer antifaschistischen Initiative anzuschließen, erscheint Luisa als sinnvollste Möglichkeit, um gegen zunehmende Xenophobie, grassierenden Rassismus und immer selbstverständlicher auftretendem Rechtsradikalismus vorzugehen, anstatt diesen gefährlichen wie beängstigenden Entwicklungen einfach nur ausgesetzt zu sein. Auch wenn sich Julia von Heinz‘ Film, die gemeinsam mit John Quester auch das Drehbuch verfasste, ohne jeden Zweifel auf die Seite der „P81“ stellt, setzt Und morgen die ganze Welt alles daran, der Verlockung dieser Möglichkeit jedes Glanzes zu berauben. Die Hoffnung auf einfache Antworten wird im Keim erstickt.

Weniger die gezeigte Gewalt der rechten Gegenseite, die Luisa gleich bei ihrer ersten Demonstration kennenlernt, desillusioniert die Protagonistin. Der Film zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er sich für die Hypokrisie und Doppelstandards in den eigenen Reihen interessiert. Mal in leiseren Zwischentönen, wenn der sich machistische „Alfa“ (Noah Saavedra) auf der Party ganz selbstverständlich Kokain gönnt. Ausgerechnet jene „elitäre“ Droge, die wohl wie keine zweite für Ausbeutung steht, deren Blutspur länger ist als die jeder anderen. Oder wenn sein bester Freund „Lenor“ (Tonio Schneider) sie sexistisch beleidigt, indem er ihr vorwirft, sie hätte sich nur durch ihre „weiblichen Vorzüge“ Zugang zum Projekt verschafft. Und dann lauter, wenn sich Alfa zusehends autoritär aufspielt und meint, die Frage nach der Legitimität der Mittel im Kampf gegen Rechts allein beantworten zu können.

Sie steht im Zentrum: die Darstellung einer Gewaltspirale, die die zulässige Antwort auf die Frage nach legitimen Mitteln im Einsatz gegen antidemokratische Kräfte auch für Luisa, wie die erste Szene bereits verrät, zusehends erweitert. Zunächst sollen nur die Autos der Teilnehmer*innen einer „Hetzjagd“ demoliert werden, dann soll den Neonazis selbst auf „die Fresse gehauen“ werden. Der Zwischenfall ruft wiederum den medizinisch geschulten Dietmar (Andreas Lust) auf den Plan, dessen Lebensgeschichte Luisa bezüglich ihres Engagements in immer größere Zweifel stürzt. Alle weiteren Nebenfiguren werden hingegen konsequent an den Rand gedrängt, sodass sie oftmals auf die Größe bloßer Stichwortgeber*innen schrumpfen. Statt durch sie ein diverseres Gesamtbild der Szene zu zeichnen, wird der Raum für die klassische Hetero-Romanze genutzt.

Bei aller (Selbst-)Kritik vergisst Und morgen die ganze Welt allerdings zu keiner Zeit, die eigentliche Bedrohung zu unterstreichen: Die Gegenseite ist es, die in aller Öffentlichkeit zur Gewalt an Minderheiten aufruft und im Verborgenen mit Sprengstoff hantiert. Höchst aktuell übt Julia von Heinze auch Kritik an fehlgelagerten Prioritäten der Innenministerien: Während Fackeln schwenkende Nazis mit völkischen Festen Propaganda und Hass verbreiten, müssen linke Wohnprojekte um ihre Existenz bangen, ist eine vernehmbare Botschaft.

Dass es Julia von Heinz gelingt, das Umfeld ihrer Protagonistin weder zu verherrlichen noch zu dämonisieren, dürfte auch an der Tatsache liegen, dass sich die Filmemacherin selbst lange Zeit in antifaschistischen Zusammenschlüssen engagierte. So liefert der Film nach knapp zwei Stunden und einem abrupten Ende natürlich keine finalen Antworten auf die Frage, wie man als junger Mensch auf die Missstände seiner Zeit reagieren soll. Dafür jedoch einen bestechend authentisch wirkenden Einblick in die inneren Kämpfe, die die Suche danach in der Protagonistin hervorruft. Das Ergebnis ist ein hochaktuelles Polit-Drama, das garantiert auch nach dem Kinobesuch noch für Gesprächsstoff sorgen wird.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/und-morgen-die-ganze-welt-2020