Petrov's Flu - Petrow hat Fieber (2021)

Eine erkrankte Gemeinschaft

Eine Filmkritik von Martin Seng

Die Sowjetunion ist zerfallen, das Land und seine Bürger:innen sind orientierungslos. Einen Zeitgeist, den Regisseur Kirill Serebrennikov auf eine beinahe märchenhafte Weise einfängt. Und doch findet man zwischen surrealen Traumwelten auch Sexismus, Rassismus, den Wunsch nach Struktur und eine zutiefst gespaltene Gesellschaft.

Petrov (Semyon Serzin) ist krank. Und während des fast zweieinhalbstündigen Films wird seine Grippeerkrankung nur noch schlimmer. Das Publikum folgt ihm, seiner geschiedenen Frau (Chulpan Kamatova), ihrem gemeinsamen Sohn (Vladislav Semiletkov) und wie sie sich durch ein Russland inmitten der Veränderung bewegen. Gleich zu Beginn des Films werden die vermeintlich Schuldigen an die Wand gestellt und erschossen. Diejenigen, die Schuld am Untergang der Sowjetunion haben, tragen Anzüge, und die, die die Kalaschnikows bedienen, tragen Uniformen. Petrov selbst ist Autoschlosser, trinkt viel und versucht seine Krankheit mit Aspirin-Tabletten von 1977 zu lindern. Seine Ex-Frau ist Bibliothekarin und muss sich mit prügelnden Literaturzirkeln und dem jungen Sohn herumschlagen.

Es ist ein wildes Durcheinander, in das man bei Petrov’s Flu geworfen wird. Charaktere existieren einfach und werden nicht klassisch eingeführt – das Chaos um sie herum dient als Exposition. Petrovs Krankheit wird über den Verlauf des Films stärker, sein Husten nimmt zu. Dazu kommen Sequenzen, bei denen man nicht mehr zwischen fieberhaftem Wahn oder irrsinniger Realität entscheiden kann. Jedes Mal stellt der Film die Frage, ob es nur eine Halluzination oder doch die Wirklichkeit ist. Dem Publikum wird viel Interpretationsspielraum gelassen, und Filmemacher Serebrennikov scheint Spaß daran zu haben, seine Zuschauer:innen zu verwirren und teils auch zu schockieren.

Man könnte bei Petrov’s Flu auch von einer durchgehenden Schockwirkung sprechen. Immer wieder blitzen kurze Gewaltexzesse auf, die mal nur angedeutet werden und dann wieder frontal zu sehen sind. Man kann sich also nie sicher sein, was man als Nächstes zu sehen bekommt. Aber das macht den Film, obwohl er keinen klassischen Spannungsbogen hat, so unterhaltsam und vielseitig. Die wenige Struktur, die der Film seinem Publikum bietet, ist das Leitmotiv des Alkohols. Es wird getrunken, wo es nur geht. In den meisten Bildern findet man Alkohol oder betrunkene Charaktere. Eine Gesellschaft, die sich zu betäuben versucht und sich in die hohen Prozente flüchtet. Der Film macht den Anschein, dass es nicht um Petrovs Krankheit, sondern um eine erkrankte Gemeinschaft geht. Eine dysfunktionale Gesellschaft, die versucht die Frustration und Angst über die Zukunft des Landes zu kanalisieren und vergeblich nach Mitteln dafür sucht. Aber vielleicht ist das auch nur einer von Serebrennikovs doppelten Böden, und seine Intention ist etwas vollkommen anders.

In dem dialoglastigen Film finden sich viele Gesprächsinhalte. Es geht um Rassismus, um Sexismus und Sexualität, Antisemitismus, Literatur, verlorene Religiosität und was sie ersetzen könnte und darum, dass die Ausländer ja an allem Schuld seien. Dabei bleiben besonders Sätze wie „Das Wahlsystem hat sich schon längst diskreditiert“ hängen. Das kann recht einfach als Parallele zum modernen Russland gelesen werden. Und wenn man sich die Vita des Regisseurs ansieht, kommt man noch einfacher zu diesem Schluss. Dem russischen Kreativen wurde mehrfach Veruntreuung von Geldern vorgeworfen, doch gelten die Beweise als fingiert und als Versuch, seine kritischen Werke zu unterbinden.

Auch Petrov’s Flu ist kritisch. Nicht nur bezüglich der Menschen, auch bezüglich einer gespaltenen russischen Gesellschaft, die sich nicht einmal in einem harmlosen Literaturzirkel einig werden kann und aufeinander losgeht. Auch heute ist die Gesellschaft Russlands wieder gespalten, und es ist ein Leichtes, diesen Konflikt in den Bildern wiederzuerkennen. Und doch ist es das Surreale, das den Film endgültig zur Metapher werden lässt. 
Was real ist und was nicht, diese Frage stellen sich auch die Figuren. Doch ihre Antworten sind so verlässlich wie die russische Demokratie selbst.

Konkretheit wird man hier nicht finden, stattdessen aber einen Film, der sich mit so vielen Themen auseinandersetzt, dass er für manche Zuschauer:innen überladen wirken kann. Am Ende wird man aus diesem Fiebertraum entlassen und muss sich selbst fragen, was man gerade gesehen hat. Man ist Autoren begegnet, die sich selbst umbringen wollen, Homosexuellen, die es eigentlich nicht sind, und Menschen, die keinen Sinn in ihrer Existenz sehen. Ob man sich von Petrov’s Flu hat anstecken lassen oder ob man ein Medikament gegen das Gesehene braucht, das müssen die Zuschauer:innen selbst entscheiden. 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/petrovs-flu-petrow-hat-fieber-2021