Passion Simple (2020)

Moscou mon amour

Eine Filmkritik von Falk Straub

Wenn es im Kino um sexuelle Begierde geht, haben Frauen immer noch einiges aufzuholen – vor allem dann, wenn sie nicht jung, ledig und kinderlos sind. Verheirateten Protagonistinnen ist eine Affäre oft nur gestattet, wenn sie darüber ihre familiären Pflichten nicht vernachlässigen. Dass Leidenschaft aber auch in irrationale Hingabe münden kann, zeigt die Filmemacherin Danielle Arbid in ihrer Adaption von Annie Ernaux' gleichnamigem Roman.

Wie fast alles in Ernaux' Œuvre ist auch das schmale Büchlein, das sie Anfang der 1990er-Jahre veröffentlicht hat, autobiografisch. Wenn wir Hélène (Laetitia Dosch) zusehen, wie sie aufgewühlt und orientierungslos durch die Pariser Nacht irrt, in der Hoffnung, ihren Geliebten Aleksandr (Sergei Polunin) wiederzutreffen, dann sehen wir auch eine Film gewordene Version der literarischen Version von Annie Ernaux, die aus allen Phasen ihres Leben – von ihrer sozialen Herkunft und Jugend über ihre Ehe, ihre Abtreibung, den Tod ihrer Mutter und ihre Krebserkrankung – Literatur gemacht hat. 

Die Affäre mit Aleksandr, einem Mitarbeiter der russischen Botschaft, war kurz, aber stürmisch. Für ein Stelldichein mit ihm ließ Hélène alles stehen und liegen. Seit er ohne Vorankündigung aus ihrem Leben verschwunden ist, wartet sie. „Ich bin zur Arbeit gegangen, ins Kino, bin einkaufen gegangen, habe gelesen. Aber alles, was ich tat, schien von der Realität abgeschnitten“, sagt sie aus dem Off. Ernüchterte Worte, die sie später bei einem Psychologen wiederholt. An diese Leidenszeit kann sie sich in der Rückschau kaum noch erinnern. Es scheint so, als sei mit der sexuellen Leidenschaft auch das Leben an sich aus ihrem Leben gewichen.

Passion simple ist Danielle Arbids fünfter abendfüllender Kinospielfilm. Er war einer der 56 Filme, die 2020 zum Festival nach Cannes eingeladen wurden, das dann aber aufgrund der Covid-19-Pandemie abgesagt werden musste. In welcher Reihe der Film gelandet wäre, ist ebenso ungewiss wie die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass er einen Preis mit nach Hause genommen hätte. Denn dafür ist nicht nur die Geschichte, sondern auch deren Umsetzung zu simpel. 

Arbid erzählt von einer Doktorandin, die sich von ihrem Mann getrennt hat und mit dem gemeinsamen Sohn in einem Haus mit großem Garten an der Pariser Peripherie wohnt. Sobald der Sohnemann in der Schule ist, kreisen ihre Gedanken nur noch um ihren Liebhaber, der kommt und geht, wie es ihm gefällt. Alltagsszenen wechseln sich mit Bettszenen ab, die nicht sonderlich leidenschaftlich aussehen. Flüchtiger Sex zwischen der Doktorarbeit, Vorlesungen an der Universität und den Fußballspielen des Sohnes. 

Am ausgeklügeltsten ist noch die Erzählstruktur, die fließend zwischen den Zeitebenen wechselt und so auch beim Publikum einen Verlust des Zeitgefühls hervorruft. Orientierung verschafft die Farbdramaturgie von Hélènes Blusen, die die Entwicklungsstadien ihrer Affäre anzeigen – von den unschuldigen Anfängen über Hoffnung, Sehnsucht und Leidenschaft bis hin zur Trauer, sich mit dem Ende der Affäre arrangieren zu müssen.

Das Unerhörte an dieser Geschichte ist, dass eine Frau nicht nur sich selbst vernachlässigt, sondern auch ihren Sohn, um sich hemmungslos einem Mann auszuliefern. Arbids Film macht deutlich, dass das gar nicht so unerhört ist; dass Leidenschaft eine jede in jeder Lebensphase treffen kann. Bei Hélène führt das so weit, dass sie in ihrer Verzweiflung irgendwann im verschneiten Moskau steht, um Aleksandr wiederzufinden. Doch auch dort bleibt sie allein. 

Die letzte Konsequenz lässt der Film dabei allerdings vermissen. Bei einem der eingangs erwähnten Kinobesuche sieht sich Hélène gemeinsam mit einer Freundin Alain Resnais' Hiroshima mon amour (1959) an. Sie kritisiert Emmanuelle Rivas Rolle als reine Männerfantasie. Rivas Figur sei eine schöne Frau, die es völlig selbstverständlich fände, begehrt zu werden. Hélène gibt jedoch zu bedenken: „Manche Frauen werden nie geliebt, selbst wenn sie schön sind. Und auch weniger schöne Frauen wollen geliebt werden. Aber die sieht man nie.“ Blond, schlank, sexy und intelligent ist aber auch Hélène letztlich (zu viel) Männerfantasie. Die weniger schönen (oder gar hässlichen) Frauen, die geliebt werden wollen, sucht man auch bei Danielle Arbid vergebens.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/passion-simple-2020