Wie ein Fremder - Eine deutsche Popmusik-Geschichte (Dokuserie, 2020)

Das sind alles bloß Gefühle

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Berlin im Januar 2017: Ein jugendlich wirkender Mann mit Brille, Bart und großer Kapuze stapft gedankenverloren im Schnee durch Kreuzberg. Sein Name ist Roland Meyer de Voltaire. Inzwischen jenseits der 40 gehörte der gebürtige Bonner einmal zu den Shootingstars der deutschen Indierock-Szene um die Jahrtausendwende. „Bei der Musik muss ich durchziehen, bis es nicht mehr geht“, erklärt der zeitweise wohnungslose Singer-Songwriter frühzeitig gegenüber der unaufgeregten, aber immer etwas zu konventionellen Kamera von Robert Schramm und Sebastian Uthoff.

Seit Kindestagen träumt der 1978 geborene Mann mit der markanten Langhaarfrisur und den melancholischen Augen vom großen Durchbruch. „Ich habe wirklich so lange Gitarre gespielt, bis ich halt wirklich mit zwei Bandagen durch die Schule gelaufen bin, weil mir die Arme so weh getan haben“, sagt er rückblickend und mit ernstem Tonfall. Ihm und seinen Bonner Jugendfreunden winkt der Sprung in die höheren Sphären des Musikbusiness unter dem Bandnamen Voltaire 2003 dann auch tatsächlich. Nach den ersten beiden EPs mit Aha-Effekt und einem wohlwollenden Raunen im deutschen Musikblätterwald vom Rolling Stone bis zum Musikexpress schien der Aufstieg zum Gipfel der deutschen Indierock-Szene nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

So wurde die Stimme des charismatischen Frontmanns und Liedschreibers, der als Diplomatensohn zeitweise in Moskau und Peking aufwuchs, anfangs sogar mit dem ebenso fragilen wie euphorisierenden Gesang von Thom Yorke (Radiohead) oder Jochen Distelmeyer (Blumfeld) verglichen. Und 2005 wurden Voltaire schließlich von der Fachmusikpresse einhellig als „schönste Aussicht auf das Jahr 2006“ betitelt: immerhin neben den Arctic Monkeys.

Rasch folgten erste Musikvideos und Fernsehauftritte (zum Beispiel mit ihrem Song „Flut“ bei Viva, wo damals noch eine junge Sarah Kuttner moderierte) und ein hochdotierter Plattenvertrag bei Universal, was Regisseur Aljoscha Pause (Being Mario Götze/Trainer/Tom meets Zizou) anhand von Archivmaterial und einer O-Ton-Armada von ehemaligen Label-CEOs, Musikern oder renommierten Autoren wie Joachim Hentschel oder Linus Volkmann launig in Szene setzt. Zur Zeit des Sommermärchens 2006 erschien mit „Heute ist jeder Tag“ schließlich der erste Longplayer der Bonner Nachwuchshoffnung.

Deren ambitionierter Sound bewegte sich von vornherein an der Nahtstelle von Post-Hamburger-Schule und internationalen Noise-Rockern wie Muse, aber genauso auch zeitweise an Popzirkus-Giganten à la Coldplay. Jener besondere Klangteppich stach zusammen mit dem unverwechselbaren Gesang Roland Meyer de Voltaires zur damaligen Zeit absolut positiv aus der Flut an deutschsprachigen Neuerscheinungen heraus.

Trotzdem blieb der kommerzielle Erfolg stets aus, weil Songs wie „Kaputt“ oder „So still“ in der Summe weder besonders Radio- noch Stadiontauglich waren. Und so blieben Voltaire bis zum Ende der Nullerjahre lediglich eine vom Fachpublikum avancierte Club-Band, die sich bereits 2011 wieder auflöste. „Das sind alles bloß Gefühle, das ist alles nicht real, ist dir kalt vor lauter Kälte, das ist alles ganz normal“, singt Roland Meyer de Voltaire einmal ebenso passend wie fröstelnd im Hinblick auf die höchst wechselhafte Solo- wie Bandgeschichte.

Denn die Gesetze in der Welt des Pop wie der Plattenindustrie sind seit jeher besonders rau: Wer keine hohen Alben- oder Ticketverkäufe liefert, wird gerade von den Majorlabels schnell wieder abgeschossen. Auch davon erzählt Aljoscha Pauses fünfteilige Mini-Dokumentarserie zumindest im Subtext immer wieder, wenngleich verhältnismäßig eintönig und vor allem auf die Dauer von 231 Minuten insgesamt allzu unkritisch.

Gemäß Christoph Schlingensiefs selbstironischem Künstler-Credo „Scheitern als Chance“ versuchte sich der unermüdlich weiter vor sich hin ackernde Ex-Frontmann in der Folgezeit zuerst also Solokünstler, der beispielsweise auch den Song „Lauf, lauf“ für Pauses Dokumentarfilm Tom meets Zizou beisteuerte, ehe er sich 2016 unter dem Projektnamen SCHWARZ mitsamt Umzug nach Berlin, neuer Freundin und neuem Label künstlerisch wie persönlich ein weiteres Mal komplett von Neuem erfand.

Inzwischen arbeitet Roland Meyer de Voltaire als Gastsänger oder (Co-)Produzent sowohl mit Christopher von Deylen (alias Schiller), aber auch mit Madsen, Enno Bunger oder dem Berliner Rapper Megaloh an diversen Projekten. Und durchaus erfolgreich. „Ich kann mittlerweile von der Musik leben“, reüssiert Roland Meyer de Voltaire am Ende von Wie ein Fremder – Eine deutsche Popmusik-Geschichte. Immerhin.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wie-ein-fremder-eine-deutsche-popmusik-geschichte-dokuserie-2020