Wie ein Fremder - Eine deutsche Popmusik-Geschichte (Dokuserie, 2020)

A Long Way Home

Eine Filmkritik von Falk Straub

Wer bei Voltaire nicht nur an einen Philosophen, sondern an ein deutsches Popmusik-Versprechen denkt und bittersüße Töne und tieftraurige Zeilen im Kopf hat, ist bei Aljoscha Pauses jüngstem Dokumentarprojekt genau richtig. Der Rest sollte reinschauen, um etwas über die Unwägbarkeiten eines Künstlerlebens, die kompromisslose Liebe zu einer Berufung und die deutsche Musikindustrie zu lernen.

Allein schon der Name! Dieser Klang. Wunderbar. Roland Meyer de Voltaire, diese Mischung aus deutschem Verwaltungswesen und französischer Noblesse hätte sich kein PR-Berater besser ausdenken können. Der Musiker heißt tatsächlich so und zieht in einer Episode einen Vergleich zwischen seiner Herkunft, einer Arbeiterfamilie väterlicherseits, bolivianischem Adel mütterlicherseits, und seinem eigenen Wesen. Eine zarte Künstlerseele im Körper eines zaudernden Perfektionisten. Die perfekte Mischung für ganz großes Drama.

Und dann diese Stimme! Dieser Klang, verletzlich und glockenhell. Wunderbar. Vor allem aber: wandelbar. Mit dem verkopften Indie-Rock seiner 2011 aufgelösten Band hat Meyer de Voltaires neues Projekt Schwarz nichts mehr zu tun. Die Songs sind nun elektronisch, simpler, eingängiger, legen aber abermals des Künstlers Innerstes offen. Dass hier der gleiche Musiker am Werk ist, dem die vorhergesagte große Karriere mit seiner Band versagt geblieben ist, können selbst einige ehemalige Weggefährten beim ersten Reinhören kaum glauben.

Der Weg dorthin war lang und verschlungen. Er nahm seinen Ausgang mit Gitarrenunterricht in Moskau, wo der 1978 in Bonn geborene Meyer de Voltaire mit seinen Eltern und zwei älteren Brüdern sieben Jahre lang wohnte. Er verstetigte sich in der Schulband, die dem damals 14-Jährigen nach der Rückkehr nach Deutschland das nötige Selbstvertrauen gab. Mit der eigenen Band nahm er schließlich Fahrt auf. Wem deren Name nichts sagt, hat die 2000er nicht zwangsläufig verschlafen. Denn all die Experten aus der Musikbranche, dem Journalismus und dem persönlichen Umfeld, die in Pauses fünfteiliger Dokumentarserie zu Wort kommen, werden nicht müde, ihrer Verwunderung über Voltaires Scheitern kundzutun.

Und es stimmt ja auch, wer die Songs der zwei Voltaire-Alben Heute ist jeder Tag (2006) und Das letzte bisschen Etikette (2009) hört, begreift nicht recht, warum es andere Bands wie Wir sind Helden oder die in der Doku vorkommenden Mitglieder von Madsen geschafft haben und Voltaire nicht. Dass vieles mit Durchhaltevermögen und Glück zu tun hat, zeigt die Karriere des Rappers Megaloh, für den Meyer de Voltaire ein paar Songs einsingt. Selbst nach einer ersten erfolgreichen Chartplatzierung behielt Megaloh seinen Brotjob als Lagerarbeiter. Pauses Serie entzaubert auch das falsche Bild, das viele von einem Leben auf der Bühne haben.

Voltaires Misserfolg aber nur auf die böse Musikindustrie und ihre rein profitorientierten Mechanismen zurückzuführen, damit macht es sich Wie ein Fremder zu leicht. Wirklich Tacheles, nämlich dass das auch viel mit Meyer de Voltaire zu tun gehabt haben könnte, der einen Song lieber zum x-ten Mal im stillen Kämmerlein neu arrangiert, anstatt sich damit endlich an die Öffentlichkeit zu wagen, redet keiner. Am ehesten tut das noch der ausgesprochen selbstreflektierte Protagonist selbst.

Aljoscha Pause hat ein Händchen für Langzeitstudien und ein Faible für Individualisten mit außergewöhnlichem, bisweilen gescheitertem Talent. Tom meets Zizou (2011) begleitete den Fußballer Thomas Broich, den die Presse zum Hoffnungsträger hochjubelte, Being Mario Götze (2018) jenen Spieler, der Deutschland 2014 zum Weltmeistertitel und in den kollektiven Freudentaumel schoss. In Wie ein Fremder rückt Pause nun eine unterbrochene und neu gestartete Karriere in der Musikbranche in den Fokus – vom Komponieren der Stücke über die Suche nach einem neuen Management bis zu ersten Auftritten und der Produktion einer Platte. Seinen Protagonisten kennt er schon länger. Für Tom meets Zizou hat Meyer de Voltaire die Filmmusik und den Song „Lauf, Lauf“ beigesteuert.

Visuell macht Pauses Fünfteiler nicht sonderlich viel her, reicht an vergleichbare Dokumentarfilme der jüngeren Vergangenheit wie 20.000 Days on Earth (2014), Cobain: Montage of Heck (2015), Amy (2015) oder Mystify (2019) nicht heran. Er tappt dabei aber auch nicht in die Falle, seine Form wichtiger als den Inhalt zu nehmen. Stattdessen konzentriert er sich auf seinen Protagonisten und dessen Auf und Ab und Hin und Her und hat dabei das nötige Quäntchen Glück, dieses Mal wieder einen spannenderen Charakter als den aalglatten Medienprofi Mario Götze vor der Kamera zu haben.

Meyer de Voltaire ist ruhig, mitfühlend, bescheiden und unglaublich talentiert, dabei mitunter jedoch so phlegmatisch, unentschlossen und ein wenig zu sehr in die eigene Leidensfähigkeit verliebt, dass man ihm am liebsten in den Hintern treten möchte. In die Falle vom genialen Künstler, der leiden muss, um Großes zu vollbringen, tappt die Serie daher allzu gern. Aber mal ehrlich, das ist schließlich auch drei Oktaven beeindruckender als eine makellose Erfolgsstory.

Im Intro jeder der fünf, jeweils nach einem Song benannten Episoden steigt Roland Meyer de Voltaire nachts in einen leeren Bus. Wo die Reise hingeht, bleibt bis zuletzt offen. Am Anfang sitzt der Protagonist im Mai 2014 abgebrannt in einer Wohnung in Köln. In einer Schublade hat er 250 Euro Barreserve, für den Fall, dass die Bank sein Konto sperrt. Wovon er die nächste Miete bezahlen soll, weiß er nicht. Ohne festen Wohnsitz zieht er nach Berlin. Am Ende, irgendwann 2019, hat er mit dem Song „Home“ einen veritablen Internet-Hit gelandet und ist mit Christopher von Deylen, dem Mann hinter dem Musikprojekt Schiller, auf großer Tournee, singt vor voller Halle in Köln. Ein Kreis schließt sich.

Wie es ihm heute, im Angesicht der Coronakrise, abgesagter Konzerte und geschlossener Veranstaltungshäuser geht, ist ungewiss. Man wünscht ihm, diesem großartigen Menschen und begnadeten Künstler, nur das Beste.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wie-ein-fremder-eine-deutsche-popmusik-geschichte-dokuserie-2020