Der die Zeichen liest

Rebellion eines Fundamentalisten

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Wenn man früher als Teenager rebellieren wollte, hörte man Death Metal, ließ sich piercen und die Haare grün färben. In Kirill Serebrennikovs Uchenik (The Student) ist die Bibel das Mittel der Wahl. Venya (Pyotr Skvortsov) hat sie für sich entdeckt und sie faktisch auswendig gelernt. Denn, so stellt er schnell fest, wenn man ohne Kontext einfach einzelne Passagen aus der Bibel zitiert, kann man faktisch alles begründen und so gut wie jedes Argument zum eigenen Gunsten wenden. Und damit hat Venya plötzlich, was er will: Aufmerksamkeit und Macht.
Eigentlich ist er nämlich ein seltsamer Grübler und Ausgestoßener aus seiner Schulklasse. Doch schon bald finden alle seine Christennummer ziemlich cool, vor allem als er sich gegen die atheistische Biologielehrerin Elena (Viktoriya Isakova) wendet, die gegen religiösen Fanatismus und für Vernunft und Wissenschaft ist. Seine Mutter ist ebenfalls entsetzt, weiß aber gar nicht, wie sie darauf reagieren soll. "Ich wünschte, er würde Briefmarken sammeln oder die ganze Zeit onanieren, so wie normale Teenager", sagt sie einmal resigniert und lässt ihren Sohn dann doch alles durchgehen.

In Russland besitzt jeder ein gewisses Maß an religiösem Schuldgefühl und Angst und genau hier setzt Venya an und zieht die Daumenschrauben an. Nach und nach installiert er ein System, in dem bald die ganze Schule mitmacht. Aus falsch verstandener politischen Korrektheit oder fehlendem Durchsetzungsvermögen lässt man den Jungen damit durchkommen und wendet sich lieber gegen Elena, die die einzige ist, die Venya etwas entgegenhält.

Auf den ersten Blick hat Serebrennikovs hier einen sehr cleveren Film gemacht, der sich gleich mit mehreren heißen Eisen auseinandersetzt. Zum einen verweist der Film auf die umstrittene Entscheidung Putins, in allen Schulen Religionsunterricht einzuführen und somit teilweise die Trennung von Staat und Kirche aufzuheben. Zum anderen schneidet er Themenfelder wie Homosexualität und Vergangenheitsbewältigung an. Ersteres verhandelt Uchenik anhand eines Jungen, den Venya zum Dank für seine Treue zu seinem Jünger macht. Doch dann stellt sich heraus, dass diese Treue aus Liebe entspringt, und die Figur findet ein gewaltsames, elendes Ende, nachdem sie aufgrund einer Behinderung eh den gesamten Film über schon beschimpft und misshandelt wurde. Die Vergangenheitsbewältigung klingt immer wieder in kleinen Abhandlungen an. Stalins Säuberungen werden von der Geschichtslehrerin als traurig, aber nötig abgetan. Ein anderes Mal geht es um die Vorzüge des Kommunismus – aber alles stets aus der Perspektive von Mitläufern, von Menschen, die sich danach sehnen, geleitet zu werden und sich sicher in ein System fallen zu lassen. Welche Art von Totalitarismus dieses System sein soll, scheint austauschbar: Stalinismus, Kommunismus, Putin, Religion – egal.

Doch je tiefer man sich diese Auseinandersetzung ansieht, desto mehr bemerkt man ihre Zahnlosigkeit. Ja, Uchenik arbeitet mit diesen Themen. Allerdings ohne sie zu vertiefen oder mit ihnen irgendwo anzuecken. Vielmehr findet sich immer ein cleverer Weg, sich um klare Aussagen herumzudrücken. Und so macht der Film am Ende das, was die Figuren mit Venya im Film tun. Er akzeptiert den Status quo und zuckt mit den Schultern. Der Fanatiker darf weiter wüten und das Volk wird sich fügen. Denn irgendwie ist es doch recht warm in Mutter Russlands Schoss, wenn man wegguckt, wegdrückt, nicht zuhört und die missachtet, die verstoßen werden.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-die-zeichen-liest