Noch nie in meinem Leben … (TV-Serie, 2020)

Vorteil: Kaling

Eine Filmkritik von Falk Straub

Mindy Kaling ist eines der Aushängeschilder der US-Unterhaltungsindustrie, wenn es um Diversität geht. Die Tochter indischer Einwanderer, 1979 als Vera Mindy Chokalingam geboren, hat sich zu einer einflussreichen Gestalterin der Branche hochgearbeitet. Die Komikerin spielt, schreibt und produziert, sie führt Regie und synchronisiert Animationsfilme. Und sie hatte ihre eigene Comedy-Serie „The Mindy Project“ (2012-2017), in der die von ihr selbst verkörperte Hauptfigur den gleichen Beruf wie Kalings Mutter ausübte, den der Gynäkologin. Gemeinsam mit Lang Fisher hat sie sich jetzt ein Format für den Streaminganbieter Netflix ausgedacht, das von Kalings eigener Jugend inspiriert ist und dabei vieles anders macht als die üblichen Teenager-Serien.

Die gute Nachricht vorab: Diese Serie suhlt sich nicht im 1980er-Retro-Chic. Kaling hat ihre Jugenderfahrungen in unsere Gegenwart mit all ihren technischen Tücken und sprachlichen Tretminen übertragen. Und so bekommen nicht nur das Dating im Digitalzeitalter, sondern auch das Herumeiern zwischen Mikroaggressionen, safe spaces und politisch korrekten Bezeichnungen ordentlich eins übergebraten. Aber dazu später mehr. Wenden wir uns zunächst der Protagonistin zu: Devi Vishwakumar, von Debütantin Maitreyi Ramakrishnan mitreißend und energiegeladen gespielt.

Die bald 16-jährige Schülerin will nach den Sommerferien einen Neustart. Gemeinsam mit ihren besten Freundinnen Eleanor (Ramona Young) und Fabiola (Lee Rodriguez) träumt sie von ersten Malen: der ersten Party, den ersten Drogen, dem ersten Freund, dem ersten Sex. Dafür hat sie sich ausgerechnet Paxton Hall-Yoshida (Darren Barnet), den Star des Schwimmteams, ausgesucht und schreckt nicht davor zurück, ihre Götter auf Knien um Hilfe anzurufen. Schon der Einstieg in diese Serie ist saukomisch. Die Diskrepanz zwischen traditionellen Auffassungen von Religion oder ganz allgemein: Autoritäten und Devis rotzfrecher Auslegung des Ganzen mündet regelmäßig in verschroben-absurde Situationen.

Der Originaltitel Never Have I Ever ist einem Trinkspiel entlehnt. Und so muss Devi in jeder der zehn Episoden eine neue Aufgabe meistern. Wie zu erwarten, geht der geplante Imagewechsel von den nerdigen Overachieverinnen hin zu den coolen Kids gehörig daneben und wird gleich mehrfach von Devis strenger Mutter Nalini (Poorna Jagannathan) oder Nemesis Ben Gross (Jaren Lewison), einem vernachlässigten Musterschüler aus reichem Hause, durchkreuzt.

Die Ausgangslage erinnert an Olivia Wildes Regiedebüt Booksmart (2019). Auch darin hatten zwei Streberinnen das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Kalings Serie ist formal nicht ganz so verspielt, dafür ähnlich schräg, originell und eine bunte Feier der Vielfalt. Während Wilde den Ausbruchsversuch ihrer Protagonistinnen in einer wilden Nacht kondensierte, hat Kaling eine Staffel lang Zeit, ihre Charaktere zu entwickeln und unzählige Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen.

Störfeuer gibt es genügend. Zum einen sind die Nebenfiguren allesamt mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Zum anderen bringen die Dauerpräsenz von Devis Cousine Kamala (Richa Moorjani) und die Abwesenheit ihres Vaters Mohan (Sendhil Ramamurthy) die häusliche Harmonie ins Wanken. Kamala, zum Studium in die USA gereist und bei Familie Vishwakumar untergekommen, sieht so unverschämt gut aus, dass die Männer reihenweise und ganz wörtlich von ihrem Weg abkommen. Angesichts einer angedachten arrangierten Ehe muss Kamala derweil ihren eigenen Weg finden.

Devis plötzlich verstorbener Vater wiederum erscheint seiner Tochter nicht nur in Visionen, sondern hat auch den größten Clou dieser Serie zu verantworten. Weil Mohan ein riesiger Tennisfan war, führt kein Geringerer als John McEnroe (!) als Erzähler durch die erste Staffel. Eine ebenso unerwartete wie vorzügliche Wahl, ist Devi wie der siebenfache Grand-Slam-Turniersieger doch ein echter Heißsporn.

Auf dem Papier wirkt all das zu viel, inhaltlich wie formal. Wie schlank Kaling und Fisher ihre Figuren jedoch geschrieben haben und ihnen gleichzeitig durch kleine, glaubwürdige Hintergrundgeschichten ausreichend Fleisch auf die Rippen geben, ist ganz fabelhaft. Jeder Charakter wirkt aus dem Leben gegriffen. Hinter jedem noch so oberflächlichen Klischee verbergen sich komplexere Facetten.

Das gilt auch dafür, wie und worüber gelacht wird. Der Humor gerät nie zynisch und ätzend, hebt sich mit feiner Ironie aber stets den entscheidenden Tick vom gefälligen Wohlfühlkomödien-Niveau ab. Heiße Eisen wie Tod, Religion, Sexismus und Rassismus packen Kaling und Fisher nicht mit Samthandschuhen an. Politische Korrektheit ist bei ihnen keine Einbahnstraße. Genüsslich führen sie stets auch falsch verstandene Toleranz, unangebrachte Rücksichtnahme und übertriebene Empfindlichkeiten vor.

Die Machtverhältnisse in der Schule haben sich dadurch längst verschoben. Aus Angst, irgendjemanden vor den Kopf stoßen zu können, schweigt der Lehrkörper lieber, während die Schülerschaft ihm auf der Nase herumtanzt. Gleichzeitig offenbart sich in dieser Praxis eine soziale Schizophrenie: Auf der einen Seite ein bis in die kleinste Freizeitaktivität durchgetakteter und auf Leistung getrimmter Alltag, der den Jugendlichen viel zu viel zumutet, köstlich von Devis Mutter versinnbildlicht, die permanent fiese Spitzen gegen die faule US-Gesellschaft abfeuert. Auf der anderen Seite ein in Watte gepackter Umgangston, der den Jugendlichen ja nichts zumuten will.

Die komödienerprobten TV-Regisseure Tristram Shapeero (Community, Blunt Talk u. a.) und Kabir Akhtar (Crazy Ex-Girlfriend u. a.) setzen diese Steilvorlage gewohnt versiert in Szene. Formale Spielereien wie in anderen wegweisenden Highschool-Serien, etwa Parker Lewis Can't Loose (1990-1993), liegen ihnen fern. Dank der tollen Drehbücher, der liebevoll geschriebenen Figuren und des wunderbar harmonierenden Ensembles ist das auch gar nicht nötig.

Und noch etwas beweist diese Serie. Statt pausenlos über Diskriminierung und Quotenregelungen zu plappern, ziehen Kaling und Fisher einfach ihr Ding durch. Was sofort auf-, aber kein bisschen ins Gewicht fällt, ist der diverse, überproportional weibliche Cast. Devis Clique kommt auch ohne eine weiße Freundin aus. Selbst ihr Schwarm hat zur Hälfte japanische Wurzeln. Und die drei Frauen im Hause Vishwakumar kommen auch prima ohne Männer klar. Für die Handlung und für das Gelingen der Serie spielt das alles keine Rolle. Einer Einwanderungsgesellschaft wie der amerikanischen steht das aber gut zu Gesicht.

Was der Serie indes abgeht, ist ein freizügiger Umgang mit dem Thema Sex. Hier gibt sich die Serie dann doch etwas zu prüde-amerikanisch. Dass das auch anders, jugendgerecht und trotzdem aufklärend und verspielt-frivol geht, hat unlängst die britische Netflix-Produktion Sex Education bewiesen. An deren Brillanz reicht Kalings neueste Schöpfung nicht vollends heran. Dafür hat sie mit der ersten Staffel gleich den ersten Matchball verwandelt. Es bleibt zu hoffen, dass sie mit weiteren zum Grand Slam ansetzt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/noch-nie-in-meinem-leben-tv-serie-2020