Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden (2019)

Die Geschichte in der Geschichte in der Geschichte

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

In einem Zug, in der Begegnung mit anderen Reisenden, kann viel Unerwartetes passieren – und im Kino, in der Konfrontation mit fremden Welten, ebenso. Dass Zugreisen somit auch besonders spannende Filmreisen ergeben können, haben etwa schon Alfred Hitchcock (mit „Der Fremde im Zug“) und Sidney Lumet (mit seiner Agatha-Christie-Verfilmung „Mord im Orient-Expreß“) erkannt. Einen höchst speziellen Beweis des Potenzials dieser Verbindung liefert nun der in Donostia-San Sebastián geborene Aritz Moreno mit seinem Langfilmdebüt „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“.

Es beginnt mit einer (zufälligen?) Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau, die im Kino – je nach Genre – zu heiterer Romantik, schicksalhafter Tragik, bösen Verwicklungen oder einem fiesen Blutbad führen kann. Hier geschieht nun – eigentlich all das. Wir können uns als Publikum im Laufe des Films nie wirklich sicher sein, ob wir gerade wohl in einer schwarzen Komödie, einem bitteren Drama, einem verrätselten Thriller oder doch eher einem knallharten Splatter-Schocker sitzen. Anything goes – was einerseits an den Surrealismus mit den Werken von Luis Buñuel denken lässt, und andererseits vielleicht realistischer als jeder geradlinig erzählte Genrefilm ist. Denn wessen Leben ist nicht schon mal ganz plötzlich vom Lustigen ins Traurige, vom Schönen ins Schreckliche – und, hoffentlich, wieder zurück – gekippt?

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden beginnt also damit, dass die Verlegerin Helga Pato (Pilar Castro) auf ihrer Rückfahrt nach Hause einen Herrn im Anzug (Ernesto Alterio) trifft, der sich als Ángel Sanagustin vorstellt. Er sei Psychiater, habe Helga am Tag zuvor in der Klinik gesehen und sei vertraut mit dem Fall ihres eingewiesenen Gatten. Um sich und ihr die Zeit zu vertreiben, wolle er ihr von anderen Fällen erzählen. Und schon steigen wir ein, in die „obskuren Geschichten“, die oft auch eine Geschichte in der Geschichte oder gar eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte beinhalten und sich die Bezeichnung „obskur“ redlich verdienen. So geht es etwa um einen Mann (Luis Tosar), der beim Militär abgelehnt wird und deshalb bei der städtischen Müllabfuhr anheuert. Alsbald entwickelt er eine extreme Paranoia, die ihn zu einem zurückgezogenen Leben mit etlichen Einschränkungen zwingt.

Der Film basiert auf dem Roman Ventajas de viajar en tren (2000) von Antonio Orejudo, der bisher nicht auf Deutsch erschienen ist. Moreno findet in seiner Adaption äußerst originelle Wege, um den grotesken Ton der Vorlage treffend ins Audiovisuelle zu übertragen. Zu den Höhepunkten zählt eine sehr, sehr blutige Sequenz, die mit dem herzzerreißenden Song El amor der Popsängerin Massiel unterlegt ist. Die virtuose Kameraarbeit von Javier Agirre und der eindringliche Score von Cristóbal Tapia de Veer tragen dazu bei, dass Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden nicht nur auf der skurrilen Plot-Ebene Eindruck hinterlässt, sondern auch kinematografisch eine wilde Reise zwischen Traum, Wirklichkeit und Wahnsinn ist.

In den besten Momenten ist der Film witzig, tragisch, fesselnd und wuchtig zugleich – wie in Helgas abgründiger Backstory, die als RomCom mit niedlichen Hunden als Sidekicks ihren Anfang nimmt und sich mit der Zweckentfremdung rabiater Gerätschaften nicht ganz so hübsch fortsetzt. Vieles greift ineinander; nichts ist gewiss – wie das eben so ist, wenn man in einen Zug steigt, ins Kino geht oder irgendwie versucht, ein Leben zu leben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-obskuren-geschichten-eines-zugreisenden-2019