Garagenvolk (2020)

Hinter den Türen

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Ein Mann läuft über eine Müllfläche. Er erreicht eine kleine Barackenansiedlung: Garagen, so weit das Auge reicht. Aus Ziegeln gemauert, aus Beton gegossen, aus Blech zusammengeschraubt: Doch hier sind keine Autos untergebracht, nein, hier werkeln (vorwiegend) Männer. Es gibt Werkstätten, Fitnessstudios, einen Band-Probenraum, einer hat eine Kleingeflügelzucht, einer einen Hubschrauber untergebracht, manche sammeln Schrott, zwei Männer in Uniformen bauen ihre Gewehre zusammen, einer sitzt an seinem Funkgerät, einer hat seine Garage – und die Nachbargaragen – komplett untertunnelt, vier, fünf Stockwerke tief in den Boden reingeschaufelt. Wohnen sie hier? Ist dies ein Slum? Oder vielleicht gar so eine Art Auslauf mit Beschäftigungstherapie für die exzentrischen Insassen einer Irrenanstalt?

Die Kamera beobachtet. Sie zeigt, was passiert, es wird nichts erklärt, wir ahnen irgendwann, dass wir uns bei Murmansk, nahe des Polarkreises, befinden. Wer dieses Garagenvolk ist, was sie machen: Erst sehr langsam finden wir heraus, dass es in der Nähe eine Wohnsiedlung gibt, Plattenbauten, und allmählich ahnen wir, dass die da einfach ihren Hobbys nachgehen, nichts weiter. Der Einstieg in den Film ist beschwerlich, wir werden hineingeworfen, ohne zu wissen. Das, was wir sehen, wird nicht kontextualisiert und dadurch mystifiziert: Als wäre ein Dokumentarfilm dazu da, dass der Zuschauer ein geheimnisvolles Rätsel löst. Dabei geht es Regisseurin Natalija Yefimkina doch eigentlich nur darum, ein Porträt von Menschen zu zeichnen, von ihrer Lebenssituation, darüber hinaus vielleicht auch von der Gesellschaft, in der sie leben. Indem sie hinter die Türen ihres Rückzugsortes blickt, dahin, wo die Männer das tun können, von dem sie träumen.

Ein Bergbauunternehmen dominiert die Gegend, hier haben sie alle irgendwann gearbeitet, von Bergwerk und Tagebau sind sie alle abhängig. In der Garage aber können sie tun und lassen, was sie wollen. Sie sind für sich, und sie sind unter sich, und jeder tut, was ihm guttut. Wodka, Musik, Schrottsammeln, oder halt jahrzehntelang unter die Erde buddeln. Nach einer halben Filmstunde kommt der Zuschauer rein in diese Welt, er kann sie einordnen, weil nun die Kamera mal nach draußen geht, das Umfeld und die Umwelt zeigt. Und wir merken, wie wichtig den Männern ihre Garagen sind, als Ruheort, als der Platz, wo sie sich entfalten können.

Und wir merken, dass dies alles, was zunächst fremd erschien und auch trostlos, ärmlich und zugemüllt, eigentlich gar nicht so weit entfernt ist von unserer deutschen Kultur. Nur, dass die hiesigen Schrebergärten erdrückt sind von den Ordnungen des Vereinsrechts und der Vereinssatzungen, der Regeln und Gewohnheitsgesetzen, wie hoch ein Zaun sein und wann der Rasen gemäht werden darf. Die Garagensiedlungen am Stadtrand erfüllen denselben Zweck, sind aber sehr viel liberaler – oder vielleicht besser: anarchischer. Jeder macht, was er will, und weil der Nachbar auch macht, was er will, stört sich keiner. Und weil sich auch von den Behörden keiner kümmert, herrscht hier fast so etwas wie Freiheit. Und die geht sogar so weit, dass sich die Leute hier eigentlich gar nicht nach Freiheit zu sehnen scheinen, sondern einfach das tun, was in den kleinen Mietwohnungen nicht möglich ist, aus Platzgründen oder weil die Frau zu sehr den Wodkakonsum überwacht.

Die Garagenmänner unterhalten sich über ihr Dasein, ihre Gedanken, ihre Philosophie – die Dialoge wirken manchmal etwas künstlich, zu sehr für die Kamera aufgesagt; das Konzept des Films, ohne Erklärung zu zeigen, geht nicht wirklich auf, mal befremdet es mit seiner Rätselhaftigkeit, mal forciert es eine falsche Künstlichkeit im Umgang der Protagonisten miteinander. Doch der Zuschauer kommt rein in den Film, findet sich ein in die Welt dieser Männer. Wir nehmen Anteil an ihrem Schicksal: Einer schnitzt für den örtlichen Pfarrer eine Ikone; der "Maulwurf" – ja, tatsächlich der Spitzname des Kellerbuddlers – verfällt im Winter in Apathie und Lebensunlust; wo im Sommer gegrillt wurde, wird jetzt gesoffen bis zur wütenden Schlägerei. Und die Garagenband zerbricht, weil die jungen Leute halt vor allem weg wollen aus der Gegend. Aber es geht weiter, im Frühjahr werden sich die Tore wieder öffnen für den nächsten Jahrgang an individueller Freizeitgestaltung à la Russland nördlich des Polarkreises.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/garagenvolk-2020