Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit (2020)

Ein Schweinesystem

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Nicht erst seit dem Beginn der weltweiten Corona-Pandemie im März dieses Jahres wurde das „System Tönnies“ jedem Bürger dieses Landes noch einmal knallhart vor Augen geführt. Schon vorher ging es oft genug in Nachrichtenformaten oder Magazinbeiträgen um den umwelttechnisch höchst bedenklichen sowie den weitgehend unmenschlichen Umgang mit diversen Schlachttieren zu Spottpreisen für den so genannten Weltmarkt, der en gros vom ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück aus regiert und auf dem Rücken vorwiegend osteuropäischer Leiharbeiter ausgetragen wird.

Aufgrund tausender positiv getesteter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in verschiedenen Fleischfabriken und Zerlegungsbetrieben der Tönnies-Gruppe geriet der selbst ernannte „Familienbetrieb“ (Clemens Tönnies) mit acht Geschäftsfeldern, internationaler Ausrichtung, 16.500 Mitarbeitern und einem Umsatz von 6,65 Milliarden Euro im Geschäftsjahr 2018 in die gravierendste öffentliche Legitimationskrise seiner Unternehmensgeschichte. Seitdem ist kaum ein Monat vergangen, in dem Tönnies-Betriebe nicht erneut ins Fadenkreuz von Richtern und Anwälten, Gesundheits- und Kreisämtern, Menschenrechtlern, Pfarrern oder Gewerkschaftlern geraten sind. Fortsetzung folgt. Mit Sicherheit.

Denn allein um die kalkulierten Millionen-Kosten für rund 100.000 Corona-Tests im Kreis Gütersloh ist nach den wiederholten Corona-Ausbrüchen bei Tönnies in der Region weiterhin ein wirtschaftspolitischer Streitpunkt ersten Grades entbrannt. Schließlich wurden in den betroffenen Arbeitsstätten selbst zur ersten Hochphase der Corona-Pandemie immer noch drastische Arbeitsschutzverstöße registriert: fehlender Mund-Nasen-Schutz im Schlachtbereich, verunreinigte WC- und Sanitäranlagen, fehlende Desinfektionsmittelstationen... Kotz Mahlzeit!

Von all diesen kruden Missständen sieht man in Yulia Lokshinas beeindruckendem Abschlussfilm Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit keine einzige Sekunde lang etwas, was allerdings eine umso größere innere Wucht entfaltet, wenn man den intensiven O-Tönen ihrer markanten ProtagonistInnen genau zuhört: Das sind die „weißen Nigger“. Hier wird nichts geschönt oder verheimlicht. Vielmehr fehlt den einzelnen (Leih-)Arbeitern oftmals das nötige Vokabular, um sich wirklich ehrlich ausdrücken zu können. Zu sehr sitzt vielen von ihnen im Subtext deutlich spürbar die panische Angst vor der Arbeits- und Perspektivlosigkeit in ihrer ursprünglichen Heimat im Nacken.

Dabei stellt sich schnell heraus, wie sehr das „System Tönnies“  ein hausgemachtes Phänomen wie „Arbeitssystem“ ist, das von Lobbyisten und Politikern über Jahrzehnte hinweg in der Region etabliert und weiter befördert wurde: mit Ausbeutung als grundlegender Maxime der neoliberalen Unternehmenspolitik, die offensichtlich einzig Weltmärkte im Auge hat und keine humanen Wohn, Sozial- und Versicherungssysteme für den Großteil ihrer Belegschaft. Mit ihrem bewusst assoziationsreichen Diplomfilm, der an der HFF München und ohne öffentliche Fördergelder entstand, ist der 1986 in Moskau geborenen Regisseurin so etwas wie der Film der Stunde gelungen, der coronabedingt im Wortsinn hoffentlich eine umso größere Aufmerksamkeit erfährt.

In ihrer klugen Mixtur aus langen, collagiert verfremdeten Einstellungen im 4:3-Format, ohne klassische Establishing Shots oder doktrinäre Antworten und gleichzeitiger extremer Nähe zu ihren überzeugenden HauptprotagonistInnen sowie den weniger tragenden Schülern des Neubiberger Gymnasiums, gelingt ihr das filmemacherische Kabinettstück, sowohl einen avancierten Dokumentarfilmhybriden als auch ein sozial- und gesellschaftspolitisch aufrüttelndes Porträt geschaffen zu haben.

Und zwar genau über die, die frei nach Brecht, im Dunkeln stehen, keine Sprache und Lobby haben und somit den perfiden Vertragssystemen großer Fleischverarbeitungsbetriebe wie Tönnies nahezu willenlos ausgeliefert sind. Es ist ein Schweinesystem, getarnt im Modus von Werkverträgen und Subunternehmertum, dass Parallelgesellschaften bewusst fördert und somit ein soziales Miteinander täglich weiter auseinanderdriften lässt. Und darauf gilt es noch millionenfach hinzuweisen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/regeln-am-band-bei-hoher-geschwindigkeit-2020