Paris Calligrammes (2020)

Ich hab’ mein Herz in Paris verloren

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Mit 20 hat man frei nach Peggy March „noch Träume“. Zum Beispiel, „eine große Künstlerin zu werden“ (Ulrike Ottinger): natürlich in Paris. Wo sonst?! Mit demselben Aufbruchsgedanken und vielen künstlerisch-kreativen Begabungen im Gepäck war Ulrike Ottinger 1962 vom Bodensee aus in ihre himmelblaue, mit Eulen bemalte Isetta gestiegen, ehe ihre hehren Kunstideale durch einen Motorschaden gleich einmal empfindlich gestört wurden.

Durchaus selbstironisch und keineswegs rein melancholisch blickt die 77-jährige Künstlerin zu Beginn ihrer neuesten Filmcollage Paris Calligrammes auf ihre eigenen Jugendjahre an der Seine zurück. Um dem kultur- wie realpolitischen Mief der „Adenauer“-Jahre zu entfliehen, entschied sich die 1942 als Ulrike Weinberg in Konstanz geborene Universalkünstlerin, die heute international bekannt ist, dafür, sich dauerhaft in Paris niederzulassen zu wollen. Eine der ersten Stationen für Ulrike Ottinger war das damals legendäre Atelier Johnny Friedländers, wo die junge Deutsche Radiertechniken studierte und zugleich rasch Teil der überaus vitalen Pariser Bohème-Szene wurde. 

In berühmten Künstlercafés wie dem „Les Deux Magots“ und den nicht minder quirligen Jazzkellern im „Quartier Latin“ wehte nach den Schrecken der Shoa und des Zweiten Weltkriegs vor allem Sartres Geist des Existenzialismus mit weitreichenden Folgen für die europäische Kulturszene nach 1945. Von hier aus starteten junge Filmkritiker wie Jean-Luc Godard oder Jacques Rivette ihre späteren Regiekarrieren, genauso wie zahlreiche Chansongrößen von Juliette Gréco bis Jacques Pills, Charles Aznavour oder Georges Moustaki, deren Eltern vielfach Immigranten waren. 

Besonders prägend war für die Mittzwanzigerin zudem die intensive Zeit mit dem jüdischen Exilanten Fritz Picard, dem in Paris Calligrammes zurecht viel Platz eingeräumt wird. In dessen schmalem Antiquariat mit kleiner Auslage versammelte sich in jenen Jahren regelmäßig das Who’s who der deutschen Literatur- und Kunstszene. Egal ob Annette Kolb, Max Ernst, Paul Celan, Walter Mehring oder Hans Arp: Alle haben sich in Picards Gästebuch eingetragen, das Ulrike Ottinger nach langer Suche für ihren Film schließlich wiederfand. 

In zehn gewohnt enigmatisch-spielerischen Kapiteln plus einem kurzen Epilog lässt die seit 1973 in Berlin lebende Filmemacherin jene Jahre des intellektuellen Auf- und Umbruchs wunderbar lebendig Revue passieren. Dass sich die politisch-geistigen Kämpfe dieser Ära sehr bald auch auf die Straße verlagerten, wird gerade in den mittleren Kapiteln von Paris Calligrammes mittels packender Archivaufnahmen und einer Reihe einprägsamer O-Töne, die von Pierre Bourdieu bis Jean Rouch und Daniel Cohn-Bendit reichen, absolut erfahrbar. 

Kein Wunder, konnte doch die Wahl-Pariserin Ottinger während ihrer Studiensemester an der Sorbonne (u.a. bei prägenden Professoren wie Louis Althusser und Claude Lévi-Strauss) vom Fenster ihrer winzigen Dachkammer aus den blutigen Mai ’68 hautnah beobachten. Nach einem Ausflug in die französische Spielart der US-amerikanischen Pop-Art wuchs in Ulrike Ottinger bald immer mehr der Hunger nach Filmbildern, die sie schon als Kind eines Schaufensterdekorateurs und Kinomalers in ihrer Konstanzer Heimat das erste Mal in sich aufgesogen hatte. 

Und von eben dieser Liebe kam die spätere Filmclub-Gründerin und erst recht als eine der wegweisendsten Filmkünstlerinnen des 20. Jahrhunderts im Grunde nie mehr weg. Denn obwohl sich Ulrike Ottinger in den Nachfolgejahrzenten auch als Malerin, Fotografin, Autorin, Kamerafrau oder Theatermacherin einen Namen in der Kunstwelt machte, wird sie im öffentlichen Diskurs bis heute vor allem als radikal-subversive, queere und ethnologisch-experimentierfreudige Filmregisseurin wahrgenommen. 

Ähnlich wie Margarethe von Trotha oder Volker Schlöndorff pilgerte sie in diesen bewegten Jahren fast täglich in Henri Langlois’ „Cinémathèque Française“: ihre Schule des Sehens. Vom deutschen Expressionismus bis zum poetischen Realismus sog sie alles fanatisch in sich auf, um später selbst immer wieder aus der Filmgeschichte zu schöpfen und diese mal spitzzüngig, mal ehrfurchtsvoll in ihre eigenen Arbeiten in poststrukturalistischer Manier zu integrieren. Im Kern ist Paris Calligrammes eine ebenso liebenswürdige wie erhellende Rückschau auf Ottingers künstlerische Lehrjahre in Frankreich sowie ihre Einflüsse und persönlichen Impulsgeber*innen. 

Im Geiste von Walter Benjamins „Passagen-Werk“ flaniert man mit ihr gleichfalls lustvoll wie mitreißend durch die pulsierenden Nachkriegsjahre in Paris und erfährt im selben Zug viel Neues über Ottingers mannigfaltige Künstlerinnen-Genese. Paris Calligrammes funktionierte dabei wie eine einzige klug durchdachte und sorgsam montierte Erinnerungslandschaft: Der sprichwörtliche „Abschied von Gestern“ des Neuen Deutschen Films trifft hier unentwegt auf den ersehnten „Aufbruch ins Jetzt“ und den „Blick ins Morgen“, für den der Name Ulrike Ottinger bis in die Gegenwart steht. 

Die diesjährige „Berlinale Kamera“-Preisträgerin bleibt mit ihrem einzigartigen Oeuvre weiterhin unverkennbar solitär in der Filmlandschaft. Schließlich kann man durch die Kunstwelt flanieren und gleichzeitig Geschichte, Sprache und Leben studieren und das selten besser als in ihren Film-Kunst-Werken. Bravo, Madame!

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/paris-calligrammes-2020