Paris Calligrammes (2020)

Gästebuch der Erinnerungen

Eine Filmkritik von Lucia Wiedergrün

Auf der diesjährigen Berlinale mit der Berlinale Kamera ausgezeichnet, berichtet Ulrike Ottinger in ihrem neuesten Film „Paris Calligrammes“ von ihrem Paris der 1950er und 60er Jahre. Einem Paris, das dank seiner Verewigung in den Künsten auch all jenen vertraut ist, die es nie selbst erlebt haben. Kaum ein Ort oder eine Zeit sind in der kollektiven Erinnerungskultur so nostalgisch verklärt und mythisch aufgeladen wie dieses Paris der Kunst. „Paris Calligrammes“ ist eine Liebeserklärung an diesen Ort und die Menschen, die ihn schufen. Es ist Ottingers ruhiger, bedachter Erzählung, voller Witz und Klugheit, geschuldet, dass der Film dabei den Fallstricken der Sentimentalität so tänzelnd entgeht.

Der Titel, Paris Calligrammes, ist einer Gedichtsammlung Guillaume Apollinaires entlehnt und der Film selbst ein intertextuelles Kunstwerk. Zusammengesetzt aus Aufnahmen des heutigen Paris, Archivmaterial, Filmausschnitten, Fotografien, Skizzen und versetzt mit Musik, Gedichten und Tonaufnahmen, verwebt der Film - einer Collage gleich - die unterschiedlichen Künste, von denen er berichtet. So wie im Werk der Malerin, Fotografin und Filmemacherin Ottinger unterschiedliche Kunstformen zusammenfinden, stehen sie auch in diesem Film gleichberechtigt nebeneinander, sodass es einem geradezu obszön vorkäme künstliche Grenzen zwischen ihnen zu ziehen.

Als die junge Ulrike Ottinger in den 1950er Jahren nach Paris zieht, ist die Stadt bereits der Ort schlechthin, um Kunst zu machen. So wie Ottinger in diesen Lehrjahren scheinbar rastlos Paris aufsaugte, vermittelt auch der Film das Gefühl einer schlaflos vibrierenden Zeit. Die Stadt erscheint als Schmelztiegel, in dem die unterschiedlichen Künste aufeinandertreffen, stets durchdrungen von den großen Fragen der Politik. Dabei werden Kontinuitäten und Brüche sichtbar. Die alte Avantgarde diskutiert in den Cafés und Ateliers mit den jungen Vertreter*Innen neuer Bewegungen. Die traumatischen Erlebnisse der deutschen Exilanten treffen auf die Erschütterungen des Algerienkrieges und die Gräueltaten des französischen Militärs und der Polizei. Paris Calligrammes ist das Portrait einer Zeit voller Gegensätze und Schwierigkeiten. Sehr persönlich und ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit, berichtet der Film von den Auseinandersetzungen der Kunst mit dem allgegenwärtigen kolonialen Erbe, den Spuren des NS-Terrors und dem Aufeinandertreffen konservativer Politik und revolutionären Geistes.

Wie zeichnet man das Bild einer Stadt, die so oft portraitiert wurde, dass sie droht zu ihrem eigenen Klischee zu werden? Ulrike Ottingers Film geht den Weg einer sehr persönlichen Beschäftigung. Im Rückgriff auf ihre eigene jugendliche Begeisterung und Neugier, überträgt ihr Werk das Gefühl einer Zeit, die trotz aller Schwierigkeiten hoffnungsvoll war, in ihrer Überzeugung, dass Kunst die Welt verändern kann. Paris Calligrammes zeigt zwei Ikonen in intimer Zweisamkeit und es ist eine große Freude lauschen zu dürfen, wenn Ottinger mit ihrem Paris ins Gespräch kommt, wie mit einer alten Freundin, ohne im Strudel der Nostalgie unterzugehen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/paris-calligrammes-2020