Zustand und Gelände (2019)

Ort und Verbrechen

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Bereits der Filmtitel klingt sperrig, geradezu fordernd. Und mit den von der Schauspielerin Katharina Meves ruhig vorgetragenen, aber nicht selten unerträglichen Fakten als Ergebnis eines ebenso imposanten wie akribischen Recherchemarathons setzt dann auch Ute Adamczweskis hochklassige Spurensuche "Zustand und Gelände" ein. Die renommierte Berliner Videokünstlerin und Filmemacherin, deren Arbeiten bereits auf der Architektur-Biennale in Venedig oder in der Münchner Pinakothek der Moderne gezeigt wurden, legt mit diesem hochgradig konzentrierten Dokumentarfilmessay ihr gleichfalls intensives wie lange nachwirkendes Langfilmdebüt vor. Ähnlich wie Thomas Heises essayistische Großtat "Heimat ist ein Raum aus Zeit" (2019) und ebenfalls in der Bildgestaltung des Nürnberger Kameramanns Stefan Neuberger kreiert sie damit gerade im dunklen Kinosaal sowie auf der großen Leinwand zwei Stunden lang eine enorme Wirkungsmächtigkeit, für die sie unter anderem mit der „Golden Taube“ im deutschen Wettbewerb des DOK Leipzig prämiert wurde. 

Thematisch fokussiert sie sich darin nach einer bemerkenswert enigmatischen Kamerafahrt entlang einer Schnellstraße sehr rasch auf Sachsens so genannte „wilde“ Konzentrationslager, die zum einen entweder während des SED-Regimes oder im Zuge des deutsch-deutschen Wiedervereinigungsprozesses umfunktioniert wurden. Oder zum anderen und nicht zufällig im historischen Langzeitgedächtnis der hiesigen Bevölkerung wie der unterschiedlichen Politsysteme nach 1945 en gros möglichst schnellst vergessen, getarnt oder umgebaut werden sollten. 

Erstaunlicherweise sind selbst über 75 Jahre nach Kriegsende viele von ihnen sowohl noch in ihrer architektonischen Grundstruktur zu erkennen und überhaupt topografisch genauestens auszumachen. Darunter befanden sich in der Tat auffällig viele Sport- und Schützenheime genauso wie Jugendherbergen oder Burgen und zentral (!) gelegene Wirtschaften und Gemeindehäuser, die jedermann kannte. Und das wohlgemerkt in eben jenem Bundesland, das durch auffällig hohe rechtsextreme Straftatenregistereinträge, langjährige Pegida-Aktivitäten sowie eine Reihe demokratisch höchst bedenklicher Wahlergebnisse im öffentlichen Diskus nach wie vor alles andere als positiv in Erscheinung tritt. 

Unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden in dieser langen Zeit politisch „roten“ und industriegeschichtlich starken Region bereits im März 1933 die ersten euphemistisch titulierten „Schutzhaftlager“ für „Bibelforscher“ (das waren in Wirklichkeit Zeugen Jehovas), „Arbeitsscheue“ und „Asoziale“ errichtet, wozu im Rassenwahn der NS-Ideologie vor allem politische Feinde zählten: namentlich Kommunisten und Marxisten, sehr früh allerdings auch Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Parallel dazu Journalisten, Pfarrer, Juristen oder generell Intellektuelle, die ihre kritische Stimme gegen Adolf Hitler sowie den rapiden Aufstieg der NSDAP zuvor in Artikeln, Flugschriften, Predigten oder am Familientisch erhoben hatten und dafür beileibe nicht nur in Nacht-und-Nebel-Aktionen verhaftet wurden, was in der politischen Gegenwart immer noch ungeheuerlich ist. 

Diese heute teils verwaisten, teils einer gänzlich neuen Funktion zugeführten Schreckensorte der NS-Barbarei lagen im Gegensatz zu den späteren Konzentrations- und Vernichtungslagern im Osten hierzulande nicht automatisch in perfide abgelegenen Waldstücken oder in der Nähe industrieller Areale, sondern oft genug mitten in prominenten Zentren des sächsischen Gemeindelebens. Was im zeitgeschichtlichen Rekurs im Grunde unglaublich, aber leider sehr wahr ist, bedeutete in dieser schwärzesten Phase der deutschen Geschichtsschreibung für Hunderttausende unsagbares Leid, willkürliche Folterungen oder für Tausende von ihnen den sicheren Tod, weil sie beispielsweise in den sächsischen Steinbrüchen gemäß der inhumanen NS-Leitlinie „Vernichtung durch Arbeit“ willentlich unterernährt wurden. 

Sie wolle in Zustand und Gelände „Strukturen der Ausgrenzung und Gewalt in einer geschichtlichen aufgeladenen Landschaft sichtbar“ machen, erklärte Ute Adamczweski bei der Premiere in Leipzig. Frei nach Brecht, „Glotzt nicht so unschuldig!“, manifestiert sich in ihrem winterlichen Reflexions- wie zeithistorischen Wachmacherfilm ihre formal-ästhetisch strenge Methode mit einer beunruhigenden Diskursivität, die automatisch zum kritischen Dialog fordert und idealiter auch das Interesse jüngerer Rezipienten für zeitgemäßes Dokumentarfilmkino schüren kann. 

Mittels aufrüttelnder Tagebucheinträge, bürokratisch eiskalter Ortsregistervermerke, die Assoziationen zu Victor Klemperers Sprachanalyse des Dritten Reichs („LTI – Notizbuch eines Philologen“) wecken, oder Auszügen aus mahnenden Erinnerungsprotokollen einiger Überlebender verschränken sich Minute um Minute Zeit(en) und Ort(e) in kongenialer Weise bis in die 2010er Jahre hinein. Somit gelingt Ute Adamczewski, Ironie der Geschichte, mit ihrem essayistischen Großkaliber Zustand und Gelände in der Summe exakt das, was sich die radikalen Pegida-Gründer Lutz Bachmann und Kathrin Oertel einst auf ihre geistig verqueren Fahnen geschrieben hatten: die „Förderung politischer Wahrnehmungsfähigkeit“ anzustacheln und die Schaffung „politischen Verantwortungsbewusstseins“ voranzutreiben. Gerade und erst recht unter Sachsens gar nicht heimeligen Giebeldächern und in allzu idyllisch wirkenden Wanderlokalen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/zustand-und-gelaende-2019