Der Schacht (2019)

Gesellschaft als Abgrund

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem kanadischen Klassiker "Cube" (Vincenzo Natali, 1997), dessen experimentelle Gefängnis-Anordnung als allegorisch dichter Horrorfilm gestaltet ist, macht sich der spanische Regisseur Galder Gaztelu-Urrutia in seinem Regiedebüt "Der Schacht" ("El Hoyo") daran, dieses Erbe anzutreten. Die reduzierte Umgebung eines Gefängnisses, in dem nur eine Handvoll klarer Gesetze gelten, wird auch hier zur Grundlage vielfältiger Gedanken- und Bedeutungsspiele.

Der Schacht: Auf Ebene 48 erwacht Goreng (Iván Massagué) gegenüber von Trimagasi (Zorion Eguileor). In dem quadratischen Raum gibt es außer zwei spartanischen Betten und einer kleinen Waschgelegenheit nur die groß in die Wand gravierte Nummer des Stockwerks und das klaffende Loch in Boden und Decke – nach oben und nach unten dehnen sich, so weit das Auge sehen kann, die anderen Ebenen. Genau einmal täglich fährt eine Plattform durch diesen Schacht, beladen mit Mengen feinster Speisen und Getränke, an denen sich jedes Stockwerk für ein paar Minuten bedienen kann. Nur fährt diese Plattform eben von oben nach unten – und jeden Monat werden die Gefangenen zufällig einer anderen Ebene zugewiesen. Mal in den oberen Dutzend, mal weit unten, jenseits des hundertsten Stocks in der Tiefe.

Von Trimagasi, dessen Name klanglich an die indonesische Formulierung für „Dankeschön“ erinnert, erfährt Goreng, dessen Namen sich dagegen als „gebraten“ übersetzen lässt, die Gesetze des Überlebens im Schacht. Offenbar ist Trimagasi schon seit einigen Monaten an diesem Ort und wartet darauf, nach nur zwei weiteren Monaten und damit zwei weiteren Rotationen durch die Etagen wieder in Freiheit zu sein. Er hat viel gesehen – war einen Monat in der achten Etage, aber auch jenseits der einhundertsten – und die Regeln sind immer dieselben: Die unteren Etagen sprechen nicht mit den oberen, alle fressen, was in sie hineingeht, und beschimpfen die unteren Etagen bestenfalls, bepinkeln sie durch die große Öffnung des Schachts oder drücken ihre Geringschätzung anders aus. Weit unten, wo die letzten Reste des Essens längst von der Plattform gekratzt sind, herrschen dagegen andere, härtere Regeln für das Überleben.

Die allegorische Verdichtung kapitalistischer Gesellschaftsstruktur ist so simpel wie interessant: Ein konkret vertikaler Gefängnisbau, dessen Ressourcenverteilung durch das Glück der höheren ‚Geburt‘ jeden Monat dazu führt, dass sich die höheren Stockwerke so viel nehmen wie sie können – in der festen Ansicht, dies stehe ihnen auch zu – und den unteren Stockwerken damit nichts zum Leben lassen, eröffnet zahlreiche Möglichkeiten, die Handlungsoptionen in einem solchen System durchzuspielen. Was heißt es, im Schacht Solidarität zu stiften? Wenn jeder nur darum fürchten muss, nächsten Monat in der Tiefe eines Schlundes zu verschwinden, der nur Fressen oder Gefressenwerden kennt, wie soll sich zwischen den von Angst und Gier geplagten Individuen eine Gemeinschaft herstellen? Dabei wissen alle, dass in der Tat genug Essen vorhanden wäre, wenn jeder nur seine Ration zu sich nähme.

So sieht auch Goreng, der offenbar einer der wenigen Freiwilligen im Schacht ist, sich schon im zweiten Monat mit Trimagasi auf Ebene 171 versetzt und es entsteht eine völlig neue, bedrohliche Situation tief im Abgrund der verschwenderischen Mikro-Gesellschaft. Immer weiter eskaliert die Gewalt zwischen den Ebenen, wenn etwa die junge Frau Miharu (Alexandra Masangkay) regelmäßig auf der Plattform durch den Schacht fährt, um ihr Kind zu suchen – und dabei längst jenseits der Grenzen von Kannibalismus und brutalem Mord an all jenen, die sich ihr in den Weg stellen, angekommen ist.

Goreng fügt sich dieser Weltordnung nicht ohne Kampf: Er will der Organisation, von allen nur „die Verwaltung“ genannt, etwas entgegenhalten und das Essen gerecht verteilen, um das Leid aller zu begrenzen und ein Überleben ohne Angst im Schacht zu ermöglichen. Als er auf der Plattform in die Tiefe fährt, um die gerechte Verteilung gewaltsam durchzusetzen, wird ihm schleichend das Ausmaß des Schachtes bewusst – und die Notwendigkeit, den Köchen in der himmlischen obersten Etage eine Nachricht der Verdammten zukommen zu lassen.

Was in der minimalistischen Anordnung eines Gedankenspiels zum Kapitalismus und seiner notwendigen Ungerechtigkeit beginnt, erweitert sich über diese Reihung der Eskalationsstufen in Der Schacht zu einer nicht mehr so einfach greifbaren und an den Rändern ausfransenden Allegorie. Was hat es mit den bedeutungstragenden Namen auf sich? Welche Rolle kommt den religiösen Dimensionen dieser Hölle zu? Was passiert in der Formstrenge von oben und unten mit jenen, die zwischen den Etagen fallen, springen oder zu klettern versuchen?

Der Schacht versucht all diese Pfade zu kreuzen und zu verknüpfen. Stellenweise gestaltet der Film dabei interessante Perspektiven auf universelle Probleme, gerade weil er vor Vereinfachung nicht zurückschreckt – manchmal sind es aber diese Vereinfachung und die bloße Andeutung von weiteren und immer tieferen Bedeutungsangeboten, die eher ratlos als neugierig zurücklassen. Dabei scheint das Anliegen des Films, ein Nachdenken über die Lebensbedingungen im Kapitalismus anzuregen, in den bereits zahlreich im Internet kursierenden Interpretationen und Auseinandersetzungen fruchtbaren Boden zu finden. Vielleicht deutet sich darin auch ein Kultstatus an, der dem Vorbild Cube irgendwann ähneln wird. Der Schacht erreicht zwar durch seine immer größer gezogenen Kreise nie ganz dessen Strenge und Präzision, faszinierend sind seine Gedankenspiele aber allemal.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-schacht-2019